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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

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Heft 9 (1. Februarheft 1904)
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Göhler, Georg: Felix Draeseke, [1]
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Muthesius, Hermann: "Kunst" im Gewerbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0644

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Anrvandlungen, die knappere, prägnante Ausdrucksweise zu verlassen und der
kontrapunktischen Arbeit reichlichen Platz zu gönnen. Das macht viele kopfscheu
und tötet außerdem die Wirkungen, die die dramatisch bewcgtsn, vorwärts
drängenden Stellen erzielt haben. Jch erwähne das als die Ursachc, die der
Verbreitung dieses Requiems geschadet hat. Verkennen wir nebcnbei nicht die
mächtigen Rivalen: Mozart, Berlioz, Verdi, Brahms. Sie alle haben den
Typus ihrer Trauermusik in scharfen, deutlichen Linien hingestellt, ihm eine
bestimmte persönliche Nüance gegeben. Die hat Draeseks zu sehr verwischt,
vielleicht absichtlich. Denn vorhanden ist sie, aber niemals betont. Das
spezifisch Draesekesche Element in der Darstellungsweise ist zudem an sich
vornehm reserviert und nicht wie bei Berlioz oder Verdi durch Ueberschreiten
der kirchlichen Linie besonders augenfällig oder wie bei Brahms allbekannt
und durch die ganz abweichende Gestaltung der Trauermusik besonders leicht
fühlbar zu machen. So haben sich denn wenige Chöre bisher des Draesekeschen
Requiems angenommen. Wer selbst einsehen will, wie unrecht das ist, studiere
Vi68 ircw (eine Schilderung des jüngsten Gerichts, die auf Berlioz' Riesen-
apparat verzichtet und doch verblüfiend anschaulich ist), das 8auetu8 (die
Trompetenrufe und die Modulationen des Chors sind echter Draeseke), das
verklärte Lonöäiotu^ und den Aufbau des ^.Zuu8 vsi.

Jmmerhin erscheint mir's eine uoch größere Unterlassungssünde, daß
Draesekes 1^i8-ino11-Messe (op. so) nirgends aufgeführt wird; sie hat bisher im
ganzen zwei Aufführungen erlebt! Jch halte sie sür das Werk, in dem sich
Draeseke am meisten und am freiesten allen Regungen seiner Phantasie hin-
gegeben und das Höchste erreicht hat. Ohnc die M38L 8o1emui8 Beethovens
ist sie gewiß nicht denkbar. Aber mag sie mit der die kühne Selbständigkeit
der Auffassung und Deklamation einzelner Textstellen gemeinsam haben; in
der Wahl der musikalischen Darstellungsmittel, im Aufbau der Sätze und der
Gewalt ihrer religiösen Ueberzeugung ist sie ein eigenes Werk, das nur mit
Brucknerschen Messen verglichen werden kann, denen es in jeder Hinsicht
gewachsen ist! Wie in diesen lebt in der §i8-iuc>11-Messe ein tiefes religiöses
Empsinden, das Verlangen, sich mit den metaphysischen Problemen auseinander-
zusetzen, und den Tönen das anzuvertrauen, was sich als Lebens- und Welt-
ausfassung im Laufe der Zeit herausgebildet hat. Handelt sich's'bei Bruckner
um naiven Kinderglauben, so fühlt man bei Draeseke, daß dem Bekenntnis
Stunden Beethooenscher Spekulation vorausgegangen sind. Doch ist deren
Ergebnis der Brucknsrschen Glaubensgewißheit verwandt. Georg Göhler.

(Schluß folgt.)

„Tunst" irn Geiverbe.*

Angesichts der Verkennung, zu der nun schon seit Jahrzehnten
ein mißgeleitetes Bedürfnis nach Kunst die Menschheit getrieben hat
und jetzt, wo die Welle der knnstlerischen Bewegung so hoch geht,
gerade wieder mit Macht hintreibt, hat wohl schon mancher die stille
Sehnsucht mitempfunden, aus diesem fatalen Kunstgetriebe doch end-
lich einmal ganz herauszukommen. Und mancher teilt vielleicht das

* llnsere Leser werden die Proben aus dem Werke ^Englische Baukunst"
von Hermann Muthesius noch in guter Erinnerung haben. Heut möchten wir
einiges aus einer zweiten Schrist von ihm ansühren, aus der Schrift ^Stil-
architektur und Baukunst'" (Dresden, Gewerbebuchhandlung Ernst Schürmaun),

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Aunstwart
 
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