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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

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Heft 10 (2. Februarheft 1904)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0720

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tiefe Bitternis grub sich ihr nims Kinn ein. Dann warf sie ihnen noch
hin: „Macht, was ihr wollt. Wir sind geschiedene Leute!"

Sie stürzte hinaus und hinauf in ihre Kammer, warf sich aufs Bett
und lag starr, bis sie endlich weinen konnte. Und nun weinte sie lange,
lange, im Dunkeln, denn ihre Seele war unendlich traurig um den Früh-
ling, der so köstlich aufgeblüht und so unbarmherzig vernichtet worden war.

Es klopfte an der Tür. Das war Bernhard. „Schwesting! Schwesting!"
Sie antwortete nicht. Er trat ein. Jm Mund hatte er die Zigarre, in der
einen Hand trug er ein brennendes Licht und in der anderen eine Flasche
Bier und ein Glas. Anna warf sich zur Seite, von ihm weg. Das Licht
tat ihr weh und sie wollte keinen Menschen hören, keinen Menschen. Er
erber kam näher und ging bis an ihr Bett.

„Schwesting", sagte er demütig, „willst du nicht 'n Glas Bier trinken,
daß du ein bißchen ruhiger wirst?" Sie schüttelte bloß heftig den Kopf.
Er setzte das Licht auf den Tisch, schenkte sich selbst ein und trank in tiefem
Zuge. Dann hockte er sich auf die Bettkante zu ihr. „Schwesting, mein
klein Annemusch, es tut uns ja fürchterlich leid. Fürchterlich leid tut es
uns. Aber wir können doch nichts dafür, wie? Wir haben doch nur dein
Bestes gewollt, nicht wahr? Dein Allerbestes, mein arm klein Schwesting."

Er hatte die eine Hand auf Annas vom Weinen leise erzitternden
Rücken gelegt, trank sein Bier in Trauerschlucken und rauchte voller Weh--
mut seine Zigarre.

Kunäsekau.

K Wilhelm Jordan, der jetzt
seinen fünfundachtzigsten Geburtstag
feiert, gehört zu denen, über die zu
schreiben uns vom Kunstwart schwer
wird, weil wir so gerne an ihm mehr
loben würden, als wir können, und
über den wir doch wenigstens einige
Worte schreiben müssen, um zwi-
schen uns und den Lesern keiue Heim-
lichkeiten zu haben. Jordan hat als
Dichter und viel mehr noch als Nhap-
sode lange Jahrzehnte hindurch eine
große Gemeinde liebender Bewunde-
rer gehabt, und schon eineAnzahl von
Zuschriften auch aus unserm Kreise
beweist uns, daß er sie auch heute
noch haben muß. Aber wie mensch-
lich sympathisch und achtbar die ganze
Persönlichkeit dieses Mannes ist, der
sein Leben lang sein Jch in seine
Jdeen warf und den Weltschmerzlern
gegenüber freudigen Zukunftsmut be-
tätigte, unserer Ueberzeugung nach
fehlte ihm in tragischer Weise ge-
rade das, was zur Vollendung sei-

ner Lebensarbeit unentbehrlich ge-
wesen wäre: Dichterkraft, gestaltende
Kraft der Phantasie. Jordan war
ein glänzender Vortragsmeister, nun,
seine „Nibelungen" sind auch wie auf
den Vortrag hin verfaßt, sie srnd
im wesentlichen eine Kette in sich ge-
schlossener Ringe teils von wirkungs-
vollen Reden, teils von Schilde-
rungen, die erst ein Vortragender
recht lebendig machen kann. Und der
Vortragende ist eben ein Mann von
heute, der Hauch der Vorzeit be-
rührt uns nicht, ja, selten nur ver-
dichtet sich für unser inneres Auge
die Rede überhaupt zu wuchtiger Ge-
staltung, die wir schauen. Seit Jor-
dans Inündlicher Vortrag schwieg
und seitdem nun auch der Schatten
vonHebbels undWagners riesigen Ni-
belnngenbauten über sein Epos hin-
wuchs, ist sein Ruhm im Volke ver-
dunkelt worden. So wird ein kom-
mendes Geschlecht in Jordans dar-
winistischen Romanen vielleicht doch

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