Heräer unct clas cleutscke Mesen.
Zum ;8. Dezember t903.
Vor hundert Jahren ist Johann Gottsried Herder gestorben. Bis
in die kleinen Städte Dentschlands hinein rüstet man sich jetzt, den
Gedenktag zu feiern. Es ist, als gelte es eine Schnld gut zu machen
gegen den großen Namen, mit dem so wenige mehr eine wirkliche
Vorstellung verbinden. Aber niemand ist ja wie der Kunstwart aus-
gerufen, dem Genius des Mannes zu huldigen. Auf diesen Blättern
soll Wacht gehalten werden für die heilige Sache der Kunst, für
das Echte und Wahre und gegen hohles Wesen, gegen das Gemachte,
gegen allen bloßen Schein. Wir wollen eine Dichtung, die aus dem
tiefsten Wesen unsres Volkes hervorbricht und die das Weltbewußtsein
unsres Volkes von sich und seiner Art, von seinen Kämpfen, Leiden
und Freuden an den Tag bringt, — eine lebendige Kunst, die ein
Organ des nationalen Lebens sei. Herder ist es, der diese Gedanken
hineingeführt hat in die deutsche Literatur. Er hat die deutsche Seele
frei gemacht, sodaß sie in der Dichtung zur Sprache kam. Man hat
es Lessing nachgerühmt, daß er den Anblick der Literatur in Deutsch-
land von Grund aus verändert habe. Von den kindlichen Anfängen
aus dem Jahr s750 bis zur Höhe seiner eigenen Werke, welch ein
Fortschritt in einem Menschenalter — dieses Menschenalter ist das-
jenige Lessings. Aber man blicke von seinen reifsten Taten auf die
Jugendwerke Goethes, aus die Schillers, — welch ein Unterschied wi»-
der! Die Tiefen der menschlichen Seele haben ihre Stimme bekommen,
— der große Sturmhauch der Genialität weht durch diese Gedichte,
etwas von unwiderstehlicher Volkskraft durchbraust sie. Diese kürzere
Zeit war es doch erst, in der der deutsche Geist den Schritt tat zur
großen Literatur. Das ist das Verdienst Herders. Er hat unser Geistes--
leben mit deutschem Wesen erfüllt. Mögen andere sprechen von seiner
Bedeutung für alle Gebiete der geschichtlichen Bildung. Auf diesen
Blättern wollen wir handeln von Herder und dem deutschen Wesen.
Jn seinem schriftstellerischen Leben war es beinah der erste
Schritt, daß er den Weg zum deutschen Wesen fand. Als ihm die
2. Dezemberheft t-03
38j
Zum ;8. Dezember t903.
Vor hundert Jahren ist Johann Gottsried Herder gestorben. Bis
in die kleinen Städte Dentschlands hinein rüstet man sich jetzt, den
Gedenktag zu feiern. Es ist, als gelte es eine Schnld gut zu machen
gegen den großen Namen, mit dem so wenige mehr eine wirkliche
Vorstellung verbinden. Aber niemand ist ja wie der Kunstwart aus-
gerufen, dem Genius des Mannes zu huldigen. Auf diesen Blättern
soll Wacht gehalten werden für die heilige Sache der Kunst, für
das Echte und Wahre und gegen hohles Wesen, gegen das Gemachte,
gegen allen bloßen Schein. Wir wollen eine Dichtung, die aus dem
tiefsten Wesen unsres Volkes hervorbricht und die das Weltbewußtsein
unsres Volkes von sich und seiner Art, von seinen Kämpfen, Leiden
und Freuden an den Tag bringt, — eine lebendige Kunst, die ein
Organ des nationalen Lebens sei. Herder ist es, der diese Gedanken
hineingeführt hat in die deutsche Literatur. Er hat die deutsche Seele
frei gemacht, sodaß sie in der Dichtung zur Sprache kam. Man hat
es Lessing nachgerühmt, daß er den Anblick der Literatur in Deutsch-
land von Grund aus verändert habe. Von den kindlichen Anfängen
aus dem Jahr s750 bis zur Höhe seiner eigenen Werke, welch ein
Fortschritt in einem Menschenalter — dieses Menschenalter ist das-
jenige Lessings. Aber man blicke von seinen reifsten Taten auf die
Jugendwerke Goethes, aus die Schillers, — welch ein Unterschied wi»-
der! Die Tiefen der menschlichen Seele haben ihre Stimme bekommen,
— der große Sturmhauch der Genialität weht durch diese Gedichte,
etwas von unwiderstehlicher Volkskraft durchbraust sie. Diese kürzere
Zeit war es doch erst, in der der deutsche Geist den Schritt tat zur
großen Literatur. Das ist das Verdienst Herders. Er hat unser Geistes--
leben mit deutschem Wesen erfüllt. Mögen andere sprechen von seiner
Bedeutung für alle Gebiete der geschichtlichen Bildung. Auf diesen
Blättern wollen wir handeln von Herder und dem deutschen Wesen.
Jn seinem schriftstellerischen Leben war es beinah der erste
Schritt, daß er den Weg zum deutschen Wesen fand. Als ihm die
2. Dezemberheft t-03
38j