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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1904)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Auch eine Neujahrsbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0518

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Kuck eme ^eujakrsbelracklung.

Einen guten Teil des Jahres, soviel mir mein Beruf cben er-
laubt, verlebe ich auf einem kleinen, einsamen Dorse. Ein paar Hoch-
sommerwochen lang schreiren einige Sommersrischler dort herum, mit
denen ich kaum in Berührung komme; die hochst bescheidene „Saison"
geht schnell vorüber, die übrige Zeit sind nur Dörfler da, und es
ist ganz, ganz still. Ein paar Wiesen und Felder, rings um sie
Heide, dann Dünen, am Saume all das umfassend das Meer. Von
meinem Arbeitszimmer aus sehe ich die nächste menschliche An-
siedlung erst winzig klein am Horizonte. Aber ich will nicht von
den Reizen der Einsamkeit sprechen, ich, der ich glaube, daß Einsam-
keit sür den Gesunden ganz sicher nicht das tägliche Brot sein sollte,
der ich glaube, daß sie, wenn sie dauernd allein einwirkte, den Men-
schen in manchem verhärten, in manchem verweichlichen müßte. Haben
wir unsre Arbeit getan, so taugt sie uns, mein ich, zur Erholung und
im Alter vielleicht zur Feierabendrast, solange wir aber frisch und
kräftig sind, gehören wir, glaube ich, zwischen andre. Zudem ist ja
kein Einsiedler, wer unter Bauern lebt, und überdies erreicht ihn
Brief und Zeitung aus der bewegteren Welt so gut wie in der Stadt.
Nein, was ich erwähnen möchte, ist nur eine Beobachtung, weil sie
mich selbst zunächst in hohem Maße überrascht hat, und weil sie mir
doch von einer ganzen Anzahl gescheiter Leute aus eigner Ersahrung
bestätigt ward. Es ist die, daß ich mein Leben nach der Nückkehr
in die Stadt binnen ganz kurzer Zeit stets als ärmer empsinde,
als je dort draußen. Kann denn das wirklich zutresfend sein, da
h wir alle doch eine ungleich größere Menge von Eindrücken in der
Stadt als ganz selbstverständlich annehmen? Und wenn der Eindruck
doch einmal so ist, wie erklärt er sich wohl?

Es liegt mir ganz fern, irgendwelche schwärmerischen, sentimen-
talen, weltflüchtigen Schlüsse ziehen, das „Verbauern" preisen, die
Stadt „verachten" zu wollen. Der tägliche Augenschein gerade wäh-
rend der „Saison" kann ja auch lehren, daß es durchaus nicht allen

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