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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1903)
DOI Artikel:
Bielschowsky, A.: Goethes Lyrik, [2]
DOI Artikel:
Grunsky, Karl: Alte Klaviermusik für die Gegenwart, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0094

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der Menschheit", „das Göttliche", „Proönnon", „Weltseele", „Eins und
Alles", „Vermächtnis", „Wiederfinden", „Selige Sehnsucht", die Krone
und der Typus von allen. A. Bielschowsky.

(Schluß folgt.)

Rlle Rlaviermusik tür clie 6egenv?ar1. i.

„Kaviar fürs Volk", höre ich murmeln. Diese ehrwürdigen Ton-
setzer vor Mozart, Haendel, Bach gehören nur in das Kämmerlein
des Musikgelehrten, des Kenners, der ihre Reize zu schätzen weiß und
den alten Wein mit der Zunge beißt. Der Oeffentlichkeit setzt man
bloß die gangbaren Marken vor, und baut auf deren erprobte Be-
rauschungskraft. Verzeihung also, wenn ich jeden gesund Empfinden-
den für fähig halte, auch vom Alten zu kosten, jeden Künstler sür
verpslichtet, sich auch mit der musikalischen Borzeit zu befassen. Wie,
ist denn die alte Klaviermnsik der Auferweckung überhaupt wert, ist
es nicht besser, daß sie in den Särgen unserer Büchereien fort-
schlummere? Jch höre schon, da ich beginne, den Einwand.

Gewöhnlich glaubt man, die Zeit sei eine unfehlbare Richterin.
Aber die Zeit ist eine gar oft sehr unsachliche Behörde, deren Ent-
scheidungen den Stempel der Laune tragen. Als Mendelssohn Bachs
Matthäuspassion hervorzog, war Bach als Vokalkomponist so gut wie
tot, er war nämlich tot für die Toten, dann erst ist er lebendig sür
die Lebendigen geworden. Könnten nicht auch vor ihm Meister ge-
wesen sein, die uns etwas zn bieten hätten, nicht etwas für Fein-
schmecker und Leckerlinge, sondern für die breite Menge, denen das
Konzert den Jnbegriff vorhandener Musik bedeutet? Es gilt die
Probe, und ich möchte aus meiner Erfahrung beibringen, was zu
Versuchen in dieser Hinsicht ausmuntert.

Solange die Musik nicht über das volle Maß der jetzt errun-
genen Ausdrucksmittel verfügte, blieb sie sreilich in mancher Be-
ziehung steif, nnfrei nnd gebunden. Es ist unvermeidlich, daß Pale-
strina trotz all seines Rnhmes zu allererst auf moderne Menschen
einen langweilenden Eindruck macht. Aber der Denkende kann sich
doch sagen: je unbeholfener srüher die Kunstmittel waren, desto klarer
muß durch jene Zeitläuse die allmähliche Gewinnung der Ausdrucks-
formen zu verfolgen sein. Und dieses Mitgehen mit den alten Vor-
kämpsern rührt unser Herz in der Tat ungemein stark. Denn jene
Meister rangen in der Musik nach Ausdruck, so gut wie Beethoven
und Wagner. Die Halskrausen und Perrücken legten sich ja nicht
um Drahtpuppen, sondern um fühlende Menschenkinder, denen die
Welt der Töne genau wie uns eine Zuflncht für Freud und Leid
war. Jn der fortschreitenden Erfindung und Bemeisterung der Ton-
sprache verfuhren sie nur zuweilen als Gelehrte, meist als empfin-
dende, kunstbedürftige Seelen. Wenn uns das Quattrocento der ita-
lienischen Malerei dergestalt anzieht, daß wir es dem vollen Gebrauch
der Knnstmittel, ausgenommen von seiten ganz großer Persönlich-
keiten, sogar vorziehen, so ist es mit der Klaviermusik des 17. Jahr-
hunderts kaum anders. Wir belauschen in ihr den Uebergang von den
Mißverständnissen der alten Kirchentonarten zu den Naturwahrheiten der

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Aunstwart
 
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