Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1904)
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0533

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
I^oss Vlatter»

l?v8 Oicklungen Milkelni8 von potenr.

Vorbemerkung. Jn Wilhelm von Polenz, der am l3. Novem-
ber d. I. unerwartet, erst H2 Jahre alt, starb, hat die deutsche Dich-
tung der Gegenwart vielleicht ihren besten Lebensdarsteller unter allen
Jüngeren verloren. Allerdings gebrauchen wir hier das Wort „Lebens-
darsteller" nicht in dem allerhöchsten Sinne, in dem es mit „großer
Dichter" vollkommen gleichwertig ist; es gibt eine gewisse mittlere
Linie der Lebensdarstellung, und wer sie innehält, der sindet zwar
nicht mit dem großen Dichter den höheren typischen Fall, um ihm
die ewige Form zu geben, aber er verarbeitet auch nicht bloß wie
die guten Unterhaltungsschriststeller die Zufälligkeiten des Tageslauses
zu interessanter Erzählnng, sondern er gestaltet wirklich, ist also Poet,
gestaltet aber allerdings nur den richtigen Durchschnitt aus dem Leben,
also nicht die großen charakteristischen, poetischen Ausnahmefälle, son-
dern den gewöhnlichen Lebenslauf in der Zeit. Diese immer noch sehr
schätzenswerten Dichter haben gewissermaßen den kulturhistorischen Blick,
wer ihre Werke liest, bekommt das richtige Bild der wirklichen Verhült-
nisse und Zeitbewegnngen, wenn auch nicht gerade die Zeit »ub spoeis
astsrni. Um Beispiele zu geben: Gewiß wirst der „Werther" ein blitz-
artiges Licht über bestimmte Zustände des achtzehnten Jahrhunderts,
aber annühcrnd allseitig zeigt er uns eben diese doch nicht, dazu ist
er viel zn sehr „Menschheitsdichtung". Auch der „grüne Heinrich"
Kellers, so viel Zeitcharakteristisches in ihm steckt, ist doch stark indi-
viduell, er geht in die Tiefen der deutschen Natur hinunter, aber
nicht breit über bestimmte Gebiete des deutschen Lebens hin. Da-
gegen führen uns Freytags „Journalisten", sein „Soll und Haben"
und seine „Verlorene Handschrift" in ihre eigene Zeit hinein, und
wer diese Zeit kennen lernen will, kommt bei ihnen rascher auf seine
Rechnung, als wenn er ein Dutzend historischer Werke über sie studiert.
Jmmerhin ist bei Freytag noch allerlei „Romantik", die zwar die Ro-
mane amüsanter macht, aber das Zeitbild hier und da salsch be-
leuchtet. Diese letzte Schwäche des Zeitromans ist bei Polenz, den
man mit Recht als den Freytag unserer Zeit bezeichnet hat, nun
auch noch weggesallen, seine großen Romane sind vollkommen wahr,
soll heißen, sie geben das Bild des Durchschnittslebens unserer Zeit,
soweit es ein kluger, ehrlicher und sozial empfindender Mann anszu-
nehmen und zu gestalten vermag. Oft genug tritt der Schriftsteller
für den Dichter ein, das ist unvermeidlich — denn, von der Begabung
ganz abgesehen, es ist einer Menschenkraft einsach unmöglich, das in
einem Dutzend Bänden zu schildernde Leben einer Zeit durchweg in
wahrhaft poetisches Fleisch und Blut zu verwandeln — ist es doch selbst
Goethe nur beim „Werther", nicht mehr völlig beim „Wilhelm Meister"
und bei den „Wahlverwandtschaften" gelungen. Aber immerhin muß
auch diese Art Zeitdichter „schauen" können, nur dann bekommt er ja
Bilder heraus, bloße kulturhistorische und soziale Neslexion oder bloßes
Gesühlsergießen würde niemals etwas Lebendiges ergeben. Leberwig
aber sind Polenzens Darstellungsakte, wir sehen die Verhältnisse, die

Aunstwart
 
Annotationen