Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1903)
DOI Artikel:
B: Richard Wagner über Berlioz
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0387

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Rickarci Magner über kerlior.

Für das Schwanken des zeitgenössischen Urteils über Berlioz
haben wir ein sehr lehrreiches Beispiel in den vorliegenden Aeußerungen
Nichard Wagners. Diesen zog der Schöpfer der „Phantastischen" schon
während seines ersten Aufenthaltes in Paris (MH—U) „trotz seiner
abstoßenden Natur" sehr lebhaft an. „Er unterscheidet sich himmel-
weit von seinen Pariser Kollegen, denn er machte seine Musik nicht
fürs Geld." Freilich, fügt Wagner hinzu, sehle ihm aller Schönheits-
sinn. „Mit großem Bedauern erfüllte mich die Anhörung seiner Sym-
phonie »Romeo und Julie«. Neben den genialsten Erfindungen häuft
sich in diesem Werke eine solche Masse von Ungeschmack, daß ich mich
nicht erwehren konnte, zu wünschen, Berlioz hätte vor der Aufführung
diese Komposition einem Manne wie Cherubini vorgelegt, der gewiß,
ohne den'. originellen Werke auch nur den geringsten Schaden zuzu-
fügen, es von einer starken Zahl entstellender Unschönheiten zu ent-
laden verstanden haben würde." Doch immerhin nennt Wagner Berlioz
den „eigentümlichsten" aller französischen Komponisten. „Er ist ein
genialer Kopf und keiner erkennt wohl besser als ich die unwider-
stehliche Kraft seines poetischen Schwunges; er besitzt eine gewissen-
haste Ueberzeugung, die ihn einzig der gebieterischen Eingebung seines
Talentes folgen läßt, und es ofsenbart sich in jeder seiner Spmphonien
die innere Notwendigkeit, welcher der Autor sich nicht entziehen konnte."
Besonders das Finale der Symphonie für die Juli-Gefallenen hatte
es Wagner angetan. „Wer vor Langeweile und Degout noch nicht
aus der Haut gefahren war, der mußte zum Schluß seiner Apotheose
in der Juli-Symphonie es vor Freude tun. Denn das ist das Merk-
würdige: in diesem letzten Satze sind Sachen, die an Großartigkeit
und Erhabenheit von nichts übertroffen werden können."

Später in „Oper und Drama" gibt Wagner eine Charakteristik
von Berlioz, wovon der Betroffene, als sie ihm zu Gesichte kam, sagte,
er werde darin „höchst komisch und geistreich heruntergerissen". Es
heißt darin: „Wenn Beethoven auf uns meistens den Eindruck eines
Menschen macht, der uns Etwas zu sagen hat, was er aber nicht
deutlich mitteilen kann, so erscheinen seine modernen Nachfolger da-
gegen wie Menschen, die uns auf eine oft reizend umständliche Weise
mitteilen, daß sie uns nichts zu sagen haben. Jn jenem, alle Kunst-
richtungen verzehrenden Paris aber war es, wo ein mit ungewöhn-
licher musikalischer Jntelligenz begabter Franzose auch die hier be-
zeichnete Richtung bis in ihr üußerstes Extrem hineinjagte. Hektor
Berlioz ist der unmittelbare und energischste Ausläufer Beethovens
nach der Seite hin, von welcher dieser sich abwandte, sobald er von
der Skizze zum wirklichen Gemälde vorschritt. Die oft flüchtig hin-
geworfenen, kecken und grellen Federstriche, in denen Beethoven seine
Bersuche zum Auffinden neuen Ausdrucksvermögens schnell und ohne
Prüfende Wahl aufzeichnete, fielen als fast einzige Erbschaft des großen
Künstlers in des begierigen Schülers Hände. Gewiß ist, daß Berlioz'
künstlerische Begeisterung aus dem verliebten Hinstarren auf jene son-
derbar krausen Federstriche sich erzeugte: Entsetzen und Entzücken faßte
ihn beim Anblicke dieser rätselhaften Zauberzeichen; wirr und bunt
tanzte ein hexenhaftes Chaos vor den Augen, deren natürliche Seh-

w Dezemberheft ^905

3Z3
 
Annotationen