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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

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Heft 4 (2. Novemberheft 1903)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunstwarts für 1904, [7]: Geschichte und Kulturgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0318

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Gesckickte uncl Kullurgesckickte.

Die gegenwärtig herrschende Zeitströmung ist der Beschäftigung mit der
Geschichte wenig förderlich. Jn dem Verlangen, neue Lebenswerte zu erobern,
fühlt man sich unbefriedigt von dem Relativismus, zu dem leicht eine geschicht-
liche Betrachtungsweise der Dinge führt. Aus ihrer beherrschenden Stellung,
die sie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts einnahm, ist die Historie längst
verdrängt worden. Die Zahl gegenwärtig lebender bedeutender, ja tüchtiger
Historiker ist gering, ihre Produktivität — als ganzes genommen — muß ge-
radezu als armselig bezeichnet werden.

Ein gut Teil Schuld an der Einbuße ihres srüheren Einflusses ist dabei
den Vertretern der geschichtlichen Disziplin selbst beizumessen. Sie sind in den
ausgetretenen Geleisen einer deskriptiven Historik weitergewandelt, die vor-
nehmlich diplomatisch-politische Vorgänge zum Gegenstande der Betrachtung
nahm, ohne zu sehen, daß mit der allgemeinen Aenderung der geistigen Be-
wußtseinsstellung auch der Geschichtsschreibung neue Probleme zur Lösung auf-
gegeben wurden. Ehe nicht hierin eine grundsätzliche Ein- und Umkehr erfolgt,
wird die Historik nicht die ihr gebührende Stellung im Rahmen der Wissen-
schaft wiedererobern können.

Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus gebührt jenen weltgeschicht-
lichen Darstellungen ein geringer Wert, die bloß auf eine anschauliche, knappe
Zusammenfassung des Latsachenmaterials ausgehen. Jmmerhin können sie oft
empfundenen praktischen Bedürfnissen genügen. Solcher Weltgeschichten niederer
Ordnung gibt es eine übergroße Zahl. Als empfehlenswert nennen wir zu-
nächst die sehr flüssig geschriebene von Jäger. Trotz mancher und wohlüber-
triebener Anfechtungen, die sie erfahren hat, ist auch um ihres reichen stosslichen
Jnhalts willen^die sehr preiswerte Weltgeschichte Schillers zu empfehlen.
Ein glücklicher Gedanke ihres verstorbenen Verfassers war es, am Schluß jedes
Bandes die wichtigsten Quellenstücke aus der betrefsenden Periode abzudrucken.
An der von dem Obersten Dork von Wartenburg verfaßten „Weltgeschichte
in Umrissen" berührt sympathisch die Wärme des Tons und die Liebe, mit der
sich ihr Verfasser in die von ihm behandelten Gegenstände versenkt hat. Tiefere
wissenschaftliche Bedeutung kommt jenen Weltgeschichten zu, welche die Förde-
rung des universalhistorischen Problems zum Gegenstand haben. Soweit von
der Darstellung der tatsächlichen Ereignisse abgesehen wird, handelt es sich um
rein geschichtsphilosophische Erörterungen. Eine Weltgesch ichte hat die allge-
meinen Entwicklungstendenzen im Prozeß des Geschehens selbst vorzuführen.
Rankes Weltgeschichte ist der klassische Niederschlag einer Gesamtanschauung,
die in den Grundsätzen der idealistischen Philosophie des beginnenden 19. Jahr-
hunderts wurzelt. — Der gewaltigen Erweiterung des geographischen Hori-
zontes, die in den letzten.Jahrzehnten eingetreten ist, trägt Helmolts auf acht
Bände berechnete Weltgeschichte Rechnung, an der eine große Zahl von Mit-
arbeitern tätig ist. Jn ihr wird die Geschichtsbetrachlung nicht auf die west-
europäischen Kulturnationen beschränkt, sondern ausgedehnt auf die Entwicklung
aller menschlichen Gemeinschaften. Erschienen ist bislang der erste Band
(Amerika), der zweite sOstasien und Ozeanien), der drilte (Westasien und
Afrika), der vierte (Mittelmeerländer) und der siebente sWesteuropa). — Lang-
jährige Beobachtungen über die Völker niederer Kulturen hat Heinrich
Sch urtz in seiner „Urgeschichte der Kultur" niedergelegt, einem Werk von er-
staunlicher Fülle des Wissens, das zudem durch ein reiches anschauliches Bilder-
material wertvoll ist.

Verheißungsvolle Ansätze, über die eben gekennzeichnete Beschränkung der
geschichtlichen Betrachtung hinauszugelangen, sind zu verzeichnen in der Rich-
tung auf eine vertiefte kulturges chichtliche Erkenntnis hin. Ueber Begriff,
Aufgabe und Umfang der Kulturgeschichtsschreibung besteht keine vollkommene
Uebereinstimmung. Auch ist die menschliche Kultur in ihren Lebensäußerungen
so vielgestaltig, daß ihre wissenschaftliche Bewältigung von verschiedenen Aus-
gangspunkten her in Angriff genommen werden kann. Der eine Weg ist, dem
Geiste einer räumlich und zeitlich umgrenzten Kultur nahe zu kommen. Hier
ist als Meister der verstorbene Basler Jakob Burckhardt zu nennen, d'essen
Werke unvergänglichen Wert besitzen. Jn seiner „Kultur der Renaissance" ent-
wirst er ein glänzendes Bild von dem siegreichen Borwärtsdringen des mo-

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Aunstwart
 
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