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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

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Heft 12
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Schaukal, Richard; Schultze-Naumburg, Paul; Avenarius, Ferdinand: Sprechsaal: Wider und für die "neue Frauentracht"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0809

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von einem Marterinstrument, das uns die Schönheit und die Gesundheit
des Leibes und der Seele lange genug geknickt hat.

Daß wir die Mängel an Kultur des Sichtbaren nicht nur zugeben,
sondern mit allen uns zu Gebote stehenden Waffen bekämpfen, wissen unsere
Leser. Hier also sind wir einig mit Schaukal. Den Kausalnexus aber,

den er zwischen dem ersten und dem zweiten Faktor behauptet, vermag

ich nicht zu begreifen. Denn, ich mag es drehen und wenden, wie ich
will, Schaukals Logik scheint mir im Grunde daraus hinaus zu kommen:
weil der deutschen Frau von heute der natürliche Geschmack anderer

Nationen fehlt, deshalb darf sie sich nicht von dem alten Marterinstru-
ment befreien, deshalb muß sie den alten Unfug weitertragen, auch
wenn sie ihn erkannt hat, bis andere geschmackvollere Nationen uns etwas
Besseres vorgemacht haben, oder bis unsere Nation reif ist, es selbst zu
machen. Wie sich Schaukal das iu pruxi denkt, weiß ich nicht. Sollen

wir die Korsettracht weiter pflegen, weil die Französinnen sie noch tragen?
Und merkt er denn nicht, welche entsetzliche „Kulturlosigkeit" dem ganzen
Prinzip der alten Korsettracht zu grunde liegt?

Auch ich sinde die größte Mehrzahl der Reformkleider an sich nicht
geschmackvoll. Jch fand auch die Kleider, die man vorher trug, uicht
geschmackvoll. Daß aber mit der Annahme des Reformkleides, mag es sich
auch noch so sehr im ersten Entwicklungsstadium befinden, in ästhetischer
und ethischer Beziehung ein Riesenschritt gemacht ist, das muß doch
ein Jeder einsehen, der verstanden hat, um was es sich handelt. Von dem,
wovon es sich eigentlich handelt, spricht aber Schaukal garnicht.

Saaleck i. Th. Paul Schultze-Naumburg.

Nein, von dem spricht er nicht, und das ist meiner Meinung nach
das Allerbezeichnendste bei all den Gegnern gegen die Reformtracht über-
haupt: von dem, worauf's ankommt, reden sie nicht. Man lese einmal
die jüngst von der Leipziger „Jllustrierten Zeitung" mit einer Umsrage
gesammelte Aussprüche über die „neue Frauentracht": wie viele sachlich
ganz gleichgültigen Sätze kommen da auf einen einzigen, der das Wesen
berührt! Daß Leute mit dem Messer essen, daß sie Kneiferschnuren tragen
und sogar hinterm Ohr, daß sie, es ist kaum auszudenken: „zum Zylinder
— gelbe Schuhe" tragen, das beweist meiner Meinung nach, Schaukal ver-
zeih mir die Sünde, den Mangel an tieferer ästhetischer Kultur in unserm
Volke noch lange nicht so schlagend, wie daß ein so gebildeter Mann wie
er die Reform der Frauentracht mit solchen Außendingen zusammenguirlt.
Denn dort überall handelt sich's um Fragen des gebildeten Geschmacks,
bei der neuen Frauentracht aber handelt sich's um Natürlichkeit statt Kün-
stelei, um Kraft statt Entartung, um Gesundheit und — wo das Jdeal
erreicht wird — um die Schönheit, die wahrhaftiger Ausdruck von all
dem ist. Wo's aber nicht erreicht wird, werden wir doch selbst in unsern
Geschmacksverirrungen noch näher am richtigen Wege bleiben, falls wir den
Korsett- und Stöckelschuhunfug los sind. A.

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Runstwart
 
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