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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (4) — 1922 (Mai bis August)

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Nr. 131 - Nr. 140 (8. Juni - 20. Juni)
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„Volkszeitung"
2. Mali. — Samstag, 17. Juni 1S22.
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SWDGßJUWk U«UU
* .Heidelberg, den 17. Juni.
Wirtschaftsrat und Getreideumlage.
Auf der Tagesordnung des Vorläufigen Rcichswirtschafisrats
Naud cm, Mittwoch zunächst der Bericht des Wirtschaftspolitischen
Ausschusses zum Gesetzentwurf über die Regelung des Verkehrs
mit Getreide aus dem Erniejahr 1923, das nur unwesentliche Aen-
bcrungx,, gegenüber der Regelung im Jahre 1921 bringt. Ein
^kmnpromißantrag auf Beschränkung der Geireideumlage wurde
kou, Ausschutz abgelehnt. Die Vorlage wurde vom Ausschutz
btil 18 gegen 17 Stimmen angenommen. — Der deutschnationale
^richstagsabgesrdnete Edler v. Brann, hier als Arbeitgeber
Landwirtschaft, wendete sich dagegen, datz den Landwirten
°" geniutet fverde, das Umlagegetreide zu einem billigeren
als dem Marktpreise abzugeben. Die Last der Broiver-
iarguug ^ürfe nicht einseitig aus die Landwirtschaft abgewalzt
werden. Die Landwirtschaft lehne einmütig die Fortsetzung der
Zwangswirtschaft ab. Zu einem Preise von 30V Mark
^rv Zentner iverde die Regierung kaum Umlagegetrside er-
halten. (Entrüstete Zwischenrufe der Arbeitnehmervertreter.) Red-
"cr begründet eineu Amrag, die Getreideumlage nur dann in
ltrast zu fetzen, wenn die freiwillige Lieferung versage, sie indrei
Raten von zusammen 2 Millionen Tonnen vorzuneymen und
Kosten für die beabsichtigte Brotverbilligung den leistuugsfähi-
ge» Ständen gemeinschaftlich aufzuerlegen.
Redakteur Feile r trat dem Vorredner scharf entgegen und
beionte, ein Uebergang zur freien Getreideivirtschaft würde eine
völlige Umivülzung der Wirtschaft bedeuten. Wenn die Getreide-
uwlage als „Sonderstsuer" von der Landwirtschaft abgelebm
werde, so müsse daraus hingewiesen werden, daß z. B. die In-
dustrie die Sonderstener der Koh lenst euer, der Haus-
l'esitz die der Wshnungszwangsw irischaft tragen
Wüste. Im Interesse des Kleinbesitzes beantragt Redner, ratz 5
^ettar jeden landwirttchaftt. Besitzes von der Umlage srelzutassen
sind.
H o f s m a u n^ (Verbrauchervertreter) verlangte, datz zumindest
die 2^-Mi«iouen-Tonnen-Umlage des Vorjahres auch in diesem
Rahre aufrecht erhalten bleibe, da auf die freiwilligen Lieferungen
kein Verlaß sei, und lehnt den Antrag v. Braun ab. Weiter be-
antragt er, daß der Umlagegetreidepreis ans Grund einer
Indexzahl entsprechend den gestiegene» Erzeugungskosten be-
lechuet werden soll.
Ernährungsminister Fehr teilt mit, datz die diesjährige Brot-
geireidecrnle, die des Vorjahres unter keinen Umständen erreichen
werde, und begründet damit die Notwendigkeit der Geireideumlage.
^o» freiwilligen Liesermrgen erwartet er ein geringes Er-
gebnis. Die Preise für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse
dürfte» nicht in einer Weise steigen, datz die Erhöhung der Produk-
üonHrosteti unerträglich werde.
In der Absti m m u » g wurde der Vorlage unter Ablehnung
aller Aenderungsanträge gegen eine große Minderheit zugestimmt.
Ueber das Zwangsanleihegesctz entspann sich sodann eine län-
gere, lebhafte Aussprache. In cstr Abstimmung wurde der Vorlage
»ach den Ausschutzbeschlüssen mit den Aenderungen zugeslimmt,
daß die Verzi n s u n g nach der Regierungsvorlage fest-
üesetzt und die Freigrenze au? 2VVVW Mk. erhöht wird. Eine
andere angenommene Entschließung fordert, vom steuerbaren Ver-
mögen KleinwohnungsgrnnWüSe auSznschlietzen.
Daraus vertagte sich der Reirhswirtschastsrat auf Anfang Juli.
Grog- und Kleinhandelspreise im Mai.
Im April hatten die Großhandelspreise das 63,5sache des
Jrirdsnsstmtdes erreicht, der Mai brachte eine weitere Steigerung
um 3,4 Prozent Mitte Mai aus das 65,7lache. Einer leichtenSen
stlng des Dollarpreises von 291 Mk. im April ans 286 Mitte Mai
waren nur wenige Warenpreise gefolgt, so Weizen, Roggen und
Hafer, in der Industrie vor allem die Häute- uud Lederpreise.
Dagegen stiegen die Preise für Vieh um 10 Prozent, für Fleisch
6 Prozent, für Butter über 30 Prozent. Die Preissteigerung der
Textilien betrug bis Mitte Mai das hundertfache des Frir-
drusstimdes. Die Eisenpreise, die am 1. Mai wieder um 6 Proz.
beraufgesetzt wurde», weisen von April bis Mai eine durchschnitt-
liche Steigerung um 21 Prozent auf.
Die Kleinhandelspreise sind rm Mai fast durchweg
weiter in die .Höhe gegangen. Stark angezogen haben insbeson-
dere die Fleisch-, Butter- und Zuckerpretse.
Vom Archrrchkmver Ruhlands.
Der russische Autzenüandel erreichte im Marz d. I. das
Doppelte gegenüber der» Februar, nämlich 17 Millionen Pud

gegenüber 8,7 MiMone» (1 Pud 16,38 Kilogramm) uud ü b e r
das t 8 sache des Warenumsatzes vom März 21. Unter den Ein-
fuhrwaren standen die Lebensmittel an erster Stelle, und zwar
allein für die H n n g e r g e bi e t e 40,5 Prozent der Gefamtein-
fuhr. Unter den Einfuhrländern standen die Vereinigten Staaten
an erster Stelle mit 53 Prozent der Gesamteinfuhr, dem folgte
Schweden mit 17 Prozent und Großbritannien mit 10 Prozent.
In der Ausfuhr herrschten die Rohstosse und Halbfabrikate
mit 98X> Prozent der Gesamtaussuhr vor.
RA U GkMWWMWU
Landeskonferenz Baden des Allgemeinen
Freien Angsstelltrnüunder in Offenburg.
Am Sonntag, den 11. Juni 1922 fand die Tagung der Orts-
kartelle des Allgemeinen freie» A»gestelltenbnndes statt. Mehr als
35 Ortskartelle mit 46 Delegierte, die ca. 30 500 Mitglieder ver-
traten, waren erschiene».
Veranlassung dazu war, zu einer Reihe wichtiger gewerkschaft-
lich, sozial und wirtschaftspolitischer Tagesfragen Stellung zu
nehmen, sowie den Bericht des Geschäftsleiters der Landesge-
schästssjelle über das verflossene Geschäftsjahr zu Hören.
Aus dem Geschäftsbcricht geht hervor, datz die im vorigen
Jabre gegründete Asa Landes zentrale zunächst unter äußerst schwie-
rigen Verhältnissen mit 5 Oriskariellen ins Leben gerufen, heute
jedoch mchr als 35 .Ortskartelle umfaßt.
Die Arbeiter der Lan-eKgeschäslsstelle Ware» im Berichtsjahre
äußerst umfangreich, aber durch die engere Zusanimeimrbeit mit
der LandeKgeschäftsstelle des A.D.G.B. von gutem Erfolg begleitet.
In der anschließenden Aussprache wurde ans allen Teilen des
Landes, iusbes. Beschwerde darüber geführt, Hatz in den vorliegen-
den Wirtschafts- u. sozialpolitische» Gesetzentwürfen immenushr die
reaWonären Bestrebungen der Arbeitgeberverbände und Haii-Äs-
kammern ihren Ausdruck finden, was sich auch bei den Verhand-
lungen mit den Arbeitgebern in den SchlichtmigKi-nstameir, Behör-
den usw. bemerkbar macht
Ebenso wurde allgemein sestgestellt, datz durch die Verlegung
der Schwerkraft der Arbeitgeberverbände auf die Schulter» eitt-
zelner von diesen abhängigen Angestellten (Syndizis), zur Siche-
rung ihrer eigenen Existenz nicht zu dem wirtschaftlich und sozia-
le« Frieden b ei tragen, sondern datz dabei die wenigen reaktionären
Arbeitgeber und Behörden eine wesentliche Stütze erfahre», die
»och weiter durch die Stellungnahme der reaktionären, .christlich,
national, gelben und sonstigen Organisationen wesentlich unter-
stützt werden.
Der durch die Satzungskonmftssion vorgelrgte Entwurf fand
einmütige Annahme.
Hiernach führt der Bezirksvorstand, vertreten durch den 1. Vor"
sitzenden, mit deut Sitz tu Karlsruhe, mit Unterstützung eines Aus-
ichnffes ans Vertretern aller LündertMe und angeschlossenen Orga-
«isMonm die Geschäfte.
Als 1. Vorsitzender und Geschästswiier wurde der frühere Ar-
beitsminister Rückert, Geschäftsleiter des Asntralverbandes, M.
d. Bad. Landtages, gewählt.
Die Anregungen und Feststellungen, die aus den Berichte»
und der Diskussion der Delegierten -hervorgsgangeu waren, wur-
dcn in folgende Entschließungen zusammeugefatzt.
Entschließung
zum Gesetzentwurf der Arbeitsgerichte.
„Die am 11. Juni in.Offenburg tagende Laudes-Konferenz
des Allgenreinen freien AngesteAtenbundes hat zn dem vom
NeichsMnistexium veröffentlichten Reserentsn-Entivurf über ein
Gesetz betreffend die Nribeitsgevickie Stellung genommen.
Die Konferenz erhebt schärfsten Einspruch gegen die beab-
sichtigte Eingliederung der Arbeitsgerichte oder die ordll. Gerichte,
die 'Sine soziale Rechtsprechung ans das lebhafteste gefährde» würde.
Die Landeskonferenz fordert den Ausbau der bestehenden
Kaufmanns- und Gewerbcgerichie zu allgemeinen Arbeitsgerichte«,
deren Kosten vom Reich, Land und den Gemeinden zn tragen sind.
De» AvbÄtsserichte« ist, wie beim Gewerbe- »Nd Kanftnaunsige-
richtsgesetz, die Schlichtung von Arbeftssirciligkeften zu übertra-
gen, wodurch die im Gesetzentwurf vorgesehene kostspielige Ver-
waltung ganz wesentlich vereinfacht Werden -kann.
Die Konferenz erblickt in dem vorliegenden Entwarf die größte
Gefahr für die Angestelltenschaft; sie lehnt deshalb den Refereüten-
entwars entschieden ab und ist bereit, dem drohenden Anschlag
notwendigenfalls mit aller Entschiedenheit zu begegnen.*
Entschließung
betreffend K rankenka s seit ange sie llten.
„Die am 11. Juni 1922 in OWenbuvg stattgefundene Landes-
versammlung des Allgemeinen freien A-ngestettienbuudes, kurz Afa,
bat Kenntnis genommen von dem Beschluß des de»Ischen Reichs-
tages vom 7. April 1922, nach welcher er die unter die Dienstord-
niMg fallenden Krankenkasssnangestellte nicht als „Beamte" ansieht.
Die Versammlung erwartet deshalb auch von den ReGieruugen
der Länder und den Volks Vertretungen die Respektierung dieses
RsichSta-gsbeschlusses.
Sie spricht ferner den Kr ankenkass en a»gestellten ihre volle
Anerkennung aus für dein schweren Kampf, de» sie führen mutzten,
«m nicht um Früchte der Revolution, närnNch dir Verordnung über

Tarisve.fträ»e vom 23. Dezember 1913 und das BetrichSrätegesetz
zu kommen, nuo sie ist gewillt, Die »iciuieiuaücm» zclleuum j» je-
der Beziehung zu »nterstützeu, we«»t trotz des Rcichslags-beschlusses
vom 7. April 1922 weiterhin verflicht weiden sollte, sie zu „Be-
amte" zu stempeln oder zu solchen zu Machen."
Entschließung
z n m A r b,e i t s z e i t g e s e tz.
„Die Landeskonferenz des Allgemeinen freie» AugrsleLtoubttn-
des nahm in ihrer Sitzung vom tzl. Juni 1922 in Offenburg fol-
gende Entschließung zu Gunsten des gesetzlichen - Achtstundentages
an:
Gegenüber den Bestrebungen, den gesetzlichen Achtstundentag
und die Arbeitszeit der Arbeiter, Angestellten und Beamten wieder
zu verlängern, erklärt die heutige Tagung einstimmig, datz die der
Afa »»geschlossenen Gewerkschaften jeden hierauf gerichteten Versuch
den entschlossensten Widersprach eutgegensetzeri werden.
Dec Achlstttttdeniag ist eine durch Vereinbarung mit de»
Unternehttierorganisatiouen erzielte, durch die Gesetzgebung, wie
auch durch die internationale Arbeiter-Konferenz in Washington
anerkannte Errungenschaft, die sich die Angestellten nicht wieder
nehmen lassen werden.
Die freien Angestellten-Gewerkschaften sind der UeberzettMnq,
datz der Achtstundentag in allen Wirtschaftszweigen durchgeführt
werden kann und daß bei der derzeitigen maxtmiften Ärbettszeit
keineswegs alle Produktiousmöglichleiten überall voll ausgemitzt
find, insbesondere sind technische Vervollkommnungen der Be-
triebs- und Arbeitsmethoden noch in weitaus meisten Fälle«
möglich."
*
Mit dieser Tagung war der Grundstein für die fortschreitende
Zusammeafassung der dem freien Angestelltenbuitd angeschlosseuon
Verbände in Baden gegeben, dem folgende Organisationen! äuge-
üöreu:
Allstem. Verband der Deutschen Bankangestellten.
Bund der techn. Angestellten und Beamten.
Deutscher Fördermaschiniston-Berband.
Deutscher Po-lterbnnd.
Deutscher Werkmeister Verband.
Genossenschaft deutscher BttHne»angchör!ge».
Internationale Artisten Loge.
Verband der Zuschneider, Zuschneiderinnen und Direkttcen.
Verband deutscher Kapitän« und Steuerleute der Hochseefischerei.
Verband deutscher SchiMingenieure m«d Seeniaschiuiste».
Verband land- und sorstwirtscstastlicher Angestellten.
Werkmcistsrverband der Schuhindustrie.
Zentmlverband der Ungesteltteu.
Er hat die Richtlinien ausgestellt für die organisatorische Zu-
sammenarbeit der Kops- und Handarbeiter und wird die Afa-
L a ich es ge sa>ä sissi ell e mit der Lanidesgeschäftsstelle des A.D.G.B.
auch in Baden nunmehr ein Glied bilden, nm die Interessen der
Arbeiter, Angestellten und Beamten der Industrie, des Handels
und des Verkehrs in gemeinsamer Front in immer machtvoller
Weise durchführert.

Kommunales.
Neichemrelegesetz.
Wir machen sie Eiufvohnerschaft Heidelbergs vorläufig -e»
züglich der Einsührung des Reichsinieteugesetzes auf folgende
Punkte aufmerksam:
1. Eine Kündigung zwecks Mietsteigerung findet ab 1. Juli
1922 Nicht mehr statt.
2. Vermieter oder Mieter, die ab t. Jüli 1922 nach dem Reichs-
mieteitsesetz ihre Miete geregelt irissen wollen, richten ani 1-, 2., 3,
oder 4. Juli 1922 (eine Beugst gung vor den, 1. Juli 1922 »st
wertlos- an die Bertragsgig! icht an das Mieteinigungsamr
cttva folgendes Schreiben:
P. P.
Ich teile Ihnen mit, daß die Miete ab 1- Juli 1922 nach dem
Reichsmietengesetz berechnet werden soll. (Gesetzliche Miele).
Unterschrift.
Eine Abschrift des Schreibens ist ausznbewahren und, wenn
»Stig, dem Mieteinigungsamt vorzntegeu znm Beweis dafür, daß
die Mitteilung schriftlich erfolgt ist. Der Zugang des Schreibens
cm den Vertragsgegner hat die Bedeutung, datz nunmehr krask
Gesetzes vom erste« Termin ab sür den die Kündigung »ach
8 565 B. G. B. zulässig sein Würde, die gesetzliche Miele an du
Stelle des vereinbarten Mietzinses tritt. Aus den Zcitpuutt des
Entscheidung des MietÄuigungsamtes kommt es «ich» au.
3. Bevor die Parteien das Mieteiuignngsamt anrufcn, sink
sie verpfklichtet, zunächst auf Grund -er vom Verstündignngs-
auSschutz deninächft in der Presse veröfseul'lichenden Richtluiieii
eine gütliche Einig»ng unter sich herbeizusirhre». Das Mieteiiii
guttgsamt darf erst dann angezogen werden, wenn dieser Eintz
gungsversuch erfolglos war.
4. Das Mieteinigungsamt erbebt ab 1. Juli 1922 in aller!
Fällen, in denen es angerufen ivird, Gebühren.
Mietemignngsamt Heidelberg-Stadt.

Entschließ»»- -eS Bundes deittscher Mietervereine.
Der aus alle» Teilen des Reiches am 10. und 11. Juni l92,i
in Dresden versammelte Gesamtvorstand des Bundes Deutsche;
MieterwevsA« gibt folgende EnlschMetzung bekaiMt:
l. Er stellt mit grotzem Befremde» fest, -atz das vom Reichsias
beschlossene ReichIMetengesetz, nicht nur durch den Hausbesitz und
seine Freunde, sondern auch von den Gemeinde», in Sou-erheil
von den Wohnungsämtern, wie die Mühlhausener Beschlüsse deZ
Verbandes Deutscher Wohnungsämter beweise», geradezu sabo-

„König Kohle".
Von Ahton Sinclair.
(69. Fortsetzung)
Dieses Programm War für Hal ein äußerst günstiges, bloß
batte er es, wie er sofort bemerke» sollte, zu spät ausgestellt. Er und
-oerry Wagten sich «„ter die Leute, die, vor eine»! der Gescllschafts-
SebSude stehend, einer Rede lauschten. Es war eine Frauenstimme,
bic klar, schier gebieterisch -m die Abemdluft klang. Sie konntm die
sprechende nicht sehen, doch erknante Hal die Stimme, packte seinen
Gefährten am Arm: „Es ist Mary Burke!"
Es war tatsächlich Mary Burke und sie schien dir Menge in
Aus Art Raserei zn versetze». Sie sagt« einen Satz -em wildes
Gebrüll -antwortete, dann folgte abermals ein Satz und-wieder die
brüllende Entgegnung der Umstehenden. Hal und Jerry -rä-igie»
Och vor, bis sie Worte dieser Wut-Litanei verstehen komiten
„Glaubt ihr, sie Würden selbst in den Schacht steigen?"
„Sie würde» es nicht!"
Würde« sie sonst in Seide und Spitzen gekleidet gehen?"
„Sie würden cs nicht!"
„Würden sie so feine, Weiche Häujde haben?"
„Sie würde» es nicht!"
„Wenn ihr bloß zusanimeiihalte» wolltet, sie lügen vor euch auf
dcii Knie», bettelten um Einigung. Doch seid ihr Feiglinge und
«e nütze» eure Angst aus! Ihr seid Verräter und sie kaufen euch!
zerbrechen euch in Stücke, tu« mit euch, was ihnen beliebt —
ran» fahren sie in Sonderzügeu fort, lassen ihre Flintemnünner
a»s paß sie euch schlagen, euch ins Gesicht treten. Wie lauge
wollt wr es Koch dulden? Wie lange?"
Das Gebrüll der Menge wogte die Straße entlang, brauste
wieder zurück. „Wir dulden es nicht! Dulden es nicht!" Männer
DMe» geballte Fäuste, Frauen schrien, sogar die Kinder ließen
EMLe »irr. „Wir werden gegen sie kämpfen! Nickt mehr Skla-
venarbeit sür sie verrichten!"
da fand Mary das Zauberwort: „Wir werden eine Ge-
"erkichgft haben!" - rief sie — „Zusammenhalten, Zusammen-
-.-»kn! Und wen» sie uns unsere Reckte verweigern, wir haben
eine Antwort daran? — -en Streik!"
Me Donnerichlag im Gebirge schivoll das Toben der Menge
s>>- >za, Mary satte das Wort gefunden! Viele Jahre hindurch
mar es im Nord Tal nicht ausgesprochen worden: nun durchlief es
wie ei« Blitz das Volk: „Streik! Streik! Streik! Streik!" Als

körmten sie sich daran nicht satt Hören. Manche hatten Marys Rede
nicht verstanden, das Wort kamitten alle: Streik! Sie übersetzten,
verkündete» es auf Polnisch. Böhmisch, Italienisch und Griechisch.
Männer schwenkten die Mützen. Frauen -« Schürzen — im Halb-
dunkel gliche» sie einer fetlsamen Vegetation durch die der Sturm
zaust. Männer -rückt« einander Ne Hände, -emonstratw-e Aus-
länder fielen einander nm den Hals. „Streik! Streik! Streik!"
„Wir sind keine Sklave« mchr!" — rief die Rednerin. — „Wir
sind Menschen, wollen als Menschen scheu! Wir wollen wie Men-
schen arbeiten oder gar nickt arbeiten! Woll« nicht mehr einer
Bichherde gleichen, die sie »ach Belieben treib« dürfen. Werden
uns organisieren, zusammenstchen — Schulter an Schulter! Wer-
den entweder zusammen sieg«, oder zusammen' verhungern, ster-
ben! Keiner von uns wird nachgeb«, keiner zum Verräter wer-
den! Gibt es Hier «in«, der seine Genossen verMift?"
Ein Geheul antwortete, das von einem Rudel WWse hätte her-
rühren können. Der Mann, der vorhatte, seine Genossen zu ver-
kaufe», sollte nur wage», sein schmutziges Geschäft zu zeigen.
„Werdet ihr zur Gewerkschaft halten?"
„Wir werden dazu halten!"
„Schwört ihr es?" "
„Wir schwören?"
Sie warf mit einer Gebärde sichender Leidmschast die Arme
gegen den Himmel: „Schwört es bei eurem Leben! Daß ihr zu
uns hatten werdet, daß lenrrr Mchgch« wird, bis wir gestegr
Habe»! Schwört! Schwört!"
Männer ahmt« ihrs Gebärde nach, reckt« die Hände znm
Himmel auf: „Wir schwören! Wir schwören!"
„Ihr werdet euch «icht mit-rrkrieg«, euch nickt erschrecken
lassen!"
„Nein, nein!"
„Haltet eure Worte, ihr Männer? Haltet sie! Es ist dir
einzige Hoffnung mrer Frauen und Kinder!" Das Mädchen sprach
weiter, ermahnte mit jagenden Worten, leidenschaftlichen Gebärde«
— glich einer hohe», schwankenden Gestalt des Aufruhrs. Hal be>
trachtete staunend die Rednerin, lauschte verblüfft ihren Worten.
Hier Hatte sich das Wunder -er MenschenseÄe verwirklicht, hier
war ans Verzweiflung Hoffnung geboren Word«, lind die sie.um-
drängende Menge batte Teil an dieser Wiedergeburt: die ausge-
streckten Arme,, die schwankend« Gestalten folgten Marys Worten
wie dem Tattstock eines Dirigenten.
Hal erbebte, Triumph -urchstrümte ihn. Er selbst batte sich
mederringen iasseih hatte diesen Ort der Dual fliehen ivollen; jetzt

aber gibt es Hoffnung im Nord Tal — jetzt wird es Sieg, Freiheit
geben!
Seitdem Hal ins Aohlewlaud gekommen, hatte er erkannt, das
die wahre Tragik im Leben dieser Leute nicht das körperliche Lei-
den ist, sonder» die geistige Gedrückihciit, das dumpfe trostloü
Elend -er Seelen. Diese Tatsache hatte ihm jeder neue Tag ins
Bewußtsein gehämmert, teils durch die Worte seiner Gefährten,
teils durch das, was er selbst sah. Tom Olson hatte es in Wortt
gekleidet: „Das AevSste liegt in de» Köpfen jener, denen wir hel-
fen wollen." Wie sollte man in dieser Umgebung -es Schreckens
HofftMNig erwecken können? Selbst Hal, jung und frei, war an de»
Rand der Verzweiflung getrieben worden. Er stammte ans eilte,
Klasse, die zu sagen gewohnt war: „tue dies!" oder: „tue -atz!"
und es geschieht. Diese Grnbmsklaven hatte« niemals das G-fiiS«
der Mackt, der Gewißheit gekannt, waren gewöhnt, all ihr Streben
»ach Glück oder Erfolg durch fremden Willen zerstört zn sehen.
Und nun hatte sich dennoch das Wunder der Menschensecle
verwirMcht! Im Nord-Tal war die Hoffnung ansgeblüht. Die
Leute erhoben sich — Mary Burke au ihrer Spitze. Seine Vision
war zur WahrHeit geworden — Mary Burke mit verklärtem Gefickt,
ihr Haar leuchtend, wie eine Goldkrone. Mary Burke auf schnee-
weißem Rotz, gehüllt in weiches, weitzes, schimmerndes Gewand,
wie Johanna von Orleans, oder wie eine SusfrMettenMhrertti in
einem Festzug. Ja, und sie Vitt an der Spitze eines ungeheuren
Heeres, Vie Marschmusik dröhnte Sn HMs- Ohr«.
Hals scherzenden Worten hatte eine wahre Vision, ein wahres
Glaube an dieses Mädchen zu Grunde gslege«. Seit dem Tage, da
er ihr zuerst begegMt — mit häuslicher Arbeit beschäftigt — Hatte
er erkannt, daß sie nicht bloß eine hübsche, junge Arbeiterin, soli-
der« eine geistig hockstehende Frau, eine Persönlichkeit, sei Sir
sah weiter, empfand tiefer, als der Durchschnitt dieser Lohusklavsn;
ihr Problem war das gleiche, doch bei weite»! komplizierter. Als er
ihr helfen, ihr eine andere BeschäfliguiW verschaffen wollte, hatte
sie ihm zu verstehen gegeben, -atz sie nickt bloß Befreiung von
Ueüerarbeit, sondern auch mit geistigen Jitter«« erfülltes Lebe«
begehre. Damals war Hm -er Gedanke gekommen, Mary solle die
LeHreri«, dis Führerin ihrer Genossen werden. Sie liebte sie, litt
mit ihn«, litt uni sie, und ihr Geist war befähigt, die Ursache«
ihres Elends zu erforschen. Als er ihr aber mit dem Man ihrer
Führerschaft gekommen war. da hatte sich ihm ihre ätzende Ver-
zweiflnM e-ltgegei-.g«stellt, ihr Pessimismus hatte seine Träume
verhöhnt, ihre Verachtimg -er Grubcusklave.» seine und ihre Ve-
strebuM« zu ihren Ginislen all;» gering bewertet.
 
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