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Die Werkstatt der Kunst: Organ für d. Interessen d. bildenden Künstler — 6.1906/​1907

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Kainzbauer, Ludwig: Zur Verfolgung unsittlicher Bilder
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https://doi.org/10.11588/diglit.52068#0671

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Heft §8.

Die Werkstatt der Kunst.

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es nur auf weibliche abgesehen) oder eine nach der
Natur photographierte stärker auf den Beschauer
überhaupt wirken. Besonders wirken sie gleich,
wenn sie dieselben Formate haben. Denn daß die
Lebensgröße und die anderen großen Formate eine
höhere Wirkung haben als die kleine Ansichts-
karte ist kein Zweifel. Außerdem wirkt die Farbe
selbstverständlich über das eintönige Bild.
Alan denke sich ein großes Gemälde oder eine
lebensgroße Aktphotographie in eine Auslage neben
den kleinen Ansichtskarten und Aktphotographien
9xs2—s3xs8, so drängt sich sofort das Gewaltige
der Lebensgröße gegen die Unscheinbarkeit der kleinen
und kleinsten Formate auf.
Diese großen Formate finden wir in den Aus-
lagen fast nie, weil sie keinen Platz haben oder zu
viel vorstellen, wie wir also sehen, spielt schon
das Format in punkto Wirkung eine große, vielleicht
die größte Rolle. Dasselbe gilt natürlich auch für
die Elastik.
wenn dieser Satz unzweifelhaft richtig ist, so
müssen jene Kunstwerke großen Formates in der
Geffentlichkeit an Plätzen, also Statuen usw., oder
in Galerien überhaupt, oder welche Nacktheiten
darstellen, am stärksten wirken, und man müßte also
diese zuerst entfernen. Nur der allerverbohrteste
Mucker könnte sich so etwas ausdenken.
Bevor wir nun untersuchen, ob die Nuditäten,
nämlich alle vom Galeriebilde bis zur Aktphoto-
graphie, verboten sein sollten, müssen wir zuerst
nachdenken, ob das nützlich oder gar notwendig ist,
und untersuchen, ob nicht bei näherer Betrachtung
die volle Freiheit in Bezug auf Ausstellung und An-
schauen dieser glücklicherweise nur von einem gewissen
ängstlichen Teile der Menschheit verfehmten Bilder für
die öffentliche Sittlichkeit nicht eher förderlich ist.
Ls kann gar kein Zweifel sein, daß die leben-
dige Natur weit über das Bild wirkt, und so hätten
wir zuerst nachzusehen, was und wie die Natur
auf die Sinne wirkt.
Aber schon hier stoßen wir auf ein Hindernis
im einzelnen Falle, da die Menschen in sittlicher
Beziehung geradeso verschieden veranlagt sind wie
in allen anderen. Ls werden also schon von vorn-
herein ganz gleiche Gegenstände, Bilder usw. auf
sinnliche Naturen stark wirken, während sie auf
phlegmatische Tharaktere gar keine Wirkung haben,
also unschädlich sind.
Des weiteren müssen wir untersuchen, was bei
den Geschlechtern von der menschlichen Gestalt am
meisten wirkt. So ist bekannt, daß derjenige Mensch
oder derjenige Körperteil auf den anderen am
meisten wirken, welcher diesem am besten gefällt,'
welchen er also mit allen seinen Sinnen angenehm
und schön findet. Also im allgemeinen die sub-
jektiv empfundene Schönheit, wir haben es hier
nur mit dem Gesichtssinne als Lrreger zu tun,
obwohl auch alle anderen Sinne Lrreger sein
können, besonders Gehör und Geruch.

Die Wirkungen, welche nun zur Liebe, „zum
Anfang aller Unsittlichkeit", führen, fangen je nach
den Individuen bei den Haaren an und enden mit
den Füßen des begehrten Teiles. Während der eine
sich in eine bestimmte Haarfarbe verliebt, wirkt beim
anderen nur ein schönes Gesicht, beim dritten ein
voller Busen, beim vierten die große Gestalt, beim
fünften ein kleiner Fuß usw.
Alle diese Dinge sieht der Mensch aber immer
zuerst auch an seinem vollständig bekleideten Gegen-
über. Ls bedarf also zur Sinneserregung bei nor-
malen Menschen überhaupt gar nicht der Nacktheit.
Man hat die Person, zu der man sich hin-
gezogen fühlt, nie oder fast nie nackt vor sich. Der
Reiz, den später die Nacktheit bietet, kommt erst in
zweiter Linie, ja bei Menschen, welche, wie die
Künstler, an die Nacktheit gewöhnt sind, ist sie ganz
wirkungslos, wenn andere Eigenschaften fehlen.
Zch glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich
behaupte, daß eine nackte Figur ohne Kopf und
Gesicht kaum eine sinnliche Wirkung hervorbringen
kann, und z. B. ein total verhüllter Kopf auf einer
nackten Gestalt hemmend wirken muß.
So ist es nun auch beim Bildwerk und im
minderen Grade der Fall, da der Beschauer schon
im vorhinein weiß, daß dieses Bild im Leben nicht
zu erreichen, die dargestellte Person nicht vor-
handen ist.
woher aber wissen die Nuditätenschnüffler,
daß die nackten Bildwerke entsittlichend auf jung
oder alt wirken? Haben wir eine Statistik, welche
uns in furchtbaren Zahlen die Verunsittlichung der
Zugend durch Betrachten nackter Bilder beweist?
Sehen wir bei unseren Auslagen scharenweise die
Zugend gebannt an den Schaufenstern stehen, stieren
Blickes in furchtbarer Erregung die Venus von
Titian, die Andromeda von Rubens anstarren?
Zst es bekannt, daß in unseren Familien infolge
der Anschauung photographischer Akte die Zungen
zu empörenden Wüstlingen werden?
Und wie steht es mit der Weltgeschichte, was
lehrt uns die, waren die früheren Zahrhunderte,
die nicht die Gelegenheit hatten, täglich nackte
Bildwerke zu sehen, sittlicher veranlagt als unseres?
Und hat man je ein einzelnes Beispiel gehört,
daß ein Zunge oder ein Mädchen infolge Betrachtung
dieser oder jener weiblichen oder männlichen nackten
Brunnenfigur ihren sittlichen Halt verloren haben?
Oder sind vielleicht die Leute am Lande oder
in kleinen Orten, wo es keine Statuen und Akt-
photographien gibt, sittlicher veranlagt? Auch das
kommt nur auf die Gegend.an.
Und noch etwas stellen wir uns vor; in unseren
Schaufenstern wären ausnahmslos Nuditäten aus-
gestellt, auf unseren Plätzen gäbe es nur nackte
Figuren, Aktphotographien in Massen an allen Ecken
und Enden. Zn acht Tagen bleibt kein Mensch
mehr bei einem Schaufenster stehen und die Zugend
am allerwenigsten.
 
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