Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

DOI Artikel:
Ginsburger, Roger; Riezler, Walter: Zweckhaftigkeit und geistige Haltung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0443

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zweckhaftigkeit und geistige Haltung

Eine Diskussion zwischen ROGER GINSBURGER und WALTER RIEZLER

Sehr geehrter Herr Dr. Riezler!

Ihr Artikel über das Haus Tugendhat von Mies van
der Rohe bietet mir eine Gelegenheit, die mündliche
Diskussion, die wir im Frühjahr in Paris hatten, wieder-
aufzunehmen. Doch bevor ich auf das eigentliche Thema
dieser Diskussion eingehe, möchte ich einen Irrtum histo-
rischer Art aufklären, den ich in Ihrem Artikel finde und
schon in anderen deutschen Veröffentlichungen gefunden
habe. Man glaubt, Le Corbusier sei um 1920 bis 1921,
als er das Wort von der „Wohnmaschine" prägte, An-
hänger einer nur rationellen, durch Konstruktion und
Zweck allein bestimmten Architektur gewesen, und er
habe einige Jahre später, nach tieferer Einsicht also,
„dieses Wort selber widerrufen" und sich damit zum
Glauben an die künstlerische Mission des Architekten
bekehrt.

Wenn man nun aber eine der ersten Auflagen von
„Vers une Architecture" durchblättert (ich habe die 2.,
1924 erschienene französische Auflage vor Augen, glaube
mich aber zu erinnern, daß alle Stellen, die ich zitieren
will, schon in der ersten Auflage und auch in den
Artikeln des „Esprit nouveau" enthalten sind), dann stößt
man immer wieder auf Sätze wie diese:

„Die Architektur ist ein Ding der Kunst, eine Er-
scheinung des inneren Erlebens, außerhalb und über den
Problemen der Konstruktion stehend. Die Konstruktion
dient der Festigkeit; die Architektur dient der Ergriffen-
heit." (S. 9.)

„Aber plötzlich rühren Sie mein Herz, Sie tun mir
wohl, ich bin glücklich, ich sage: es ist schön. Das ist
Architektur. Die Kunst ist hier.

Mein Haus ist praktisch. Ich danke Ihnen wie ich den
Eisenbahningenieuren oder der Telephongesellschaft
danke. Sie haben nicht zu meinem Herzen gesprochen.

Aber die Mauern erheben sich gegen den Himmel in
solch einer Ordnung, daß ich ergriffen bin. Ich fühle
Ihre Absichten. Sie waren sanft, brutal, anmutig oder
würdevoll. . . Das ist Architektur." (S. 123, 144, 165.)

Le Corbusier war also von vornherein für die Kom-
bination Zweck und Kunst und dabei ist ihm das emotiv-
poetische Ziel sogar immer wichtiger gewesen als das
praktische. Wenn er das später oft noch besonders be-
tont hat, so war es nicht, um einen neuen Standpunkt
festzustellen, sondern einerseits um das Mißverständnis
zu beseitigen, das das Wort „Wohnmaschine" bei denen
erzeugt hatte, welche nichts anderes von ihm kannten
als dies Wort, andererseits um sich gegen den Vorwurf
der Lyrik von seifen der materialistisch gerichteten
Jungen zu verteidigen, indem er diese Lyrik selbst ver-
teidigte.

Eine Betonung dieser Tatsachen scheint mir wichtig,
weil der Leser in solchen theoretischen Fragen allzu
leicht sich für den scheinbar neueren Standpunkt ent-
scheidet und in diesem Falle glauben könnte, die Archi-
tektur habe sich vom „Zwecklichen" zum „Künstlerischen"
fortentwickelt.

Um nun bei unserer eigentlichen Diskussion Miß-
verständnisse zu vermeiden, will ich versuchen, zunächst
Ihren Standpunkt mit kurzen Worten zu formulieren. Sie
glauben erstens, daß alle frühere Baukunst Überwindung
des Zweckhaft-Konstruktiven durch eine geistig-seelische
Haltung, die Erhöhung des sachlich Gebundenen in das

freie Reich des Absoluten sei; zweitens, daß das Ziel
des heutigen Bauens neben der Wirtschaftlichkeit und
Zweckmäßigkeit ebenfalls die Schaffung eines geistig-
seelischen Ausdrucks sein solle, der nicht durch den Bau-
ingenieur, sondern durch den Baukünstler zu lösen sei;
drittens, daß das neue, gegenwartsgebundene, aber
doch geistig absolute Raum- und Formgefühl, welches
der neuen Gestaltung zugrunde liege, einem neuen
Weltgefühl entspräche, welches materialistisch nicht er-
klärbar sei.

Zum ersten Punkt ist zu sagen, daß die frühere Bau-
kunst sehr wohl Werke aufweist, von denen man ohne
weiteres behaupten kann, daß sie die Überwindung
weder des Zweckes noch der Konstruktion anstreben. Es
sind alles Bauten außer den sakralen und repräsenta-
tiven, also alle, die nicht der Verherrlichung der Macht
eines angenommenen oder wirklichen Wesens dienten.
In den Kunstgeschichtsbüchern spricht man allerdings
nicht von diesen Zweckbauten, außer wenn sie schon
eine Verwandtschaft mit den Monumentalbauten auf-
weisen. Man zeigt Patrizierhäuser, deren Form, Material
oder Ornament den Reichtum ihres Besitzers oder die
Macht seiner Zunft symbolisieren sollten. Man bringt
Bauernhäuser, deren Besitzer ihre ökonomische Stellung
dadurch ausdrückten, daß sie in einem Gesims oder
einem Geländer die Luxusformen der herrschenden
Klasse nachahmten, oder zumindest solche, auf denen
eine Heiiigenplastik oder aus dem heidnischen Aber-
glauben übernommene symbolische Ornamente zur Ab-
wehr von Krankheit und Unglück angebracht waren. Man
spricht auch von Festungswerken und Brücken, die neben
den zweckbedingten Formen noch repräsentative Zier-
formen enthalten, weil sie einem Fürsten oder einer
politischen Gemeinschaft angehörten.

Die reinen Zweckbauten früherer Jahrhunderte über-
geht man. Sind sie noch Baukunst? Das hängt von der
Definition des Wortes ab. Nimmt man die Ihre, „Uber-
windung des Zweckhaft-Konstruktiven durch geistig-see-
lische Haltung", dann sind sie es nicht. Jede Form eines
alten Bauernhauses ist konstruktiv und funktionell be-
stimmt, die Stellung zur Windrichtung und zur Sonne hat
vernunftgemäße Gründe, sogar die Stellung der ein-
zelnen Gebäude eines Gehöftes zueinander oder die
Anordnung der Bepflanzung mit Hecken und Bäumen
ist aus den klimatischen Verhältnissen und den Arbeits-
vorgängen und Lebensgewohnheiten heraus erklärbar,
und daher kommt auch die formale Ähnlichkeit zwischen
den verschiedenen Bauernhöfen eines gleichen Land-
striches, wie sie mir gerade neulich in Dänemark wieder
auffiel.

Man könnte höchstens von der Anordnung der
Fenster, von der Wiederholung gleicher Abstände
zwischen ihnen an der Fassade und ihrer symmetrischen
Lage an einer Raumwand sagen, sie entspräche einem
künstlerischen Bedürfnis. Es ist aber doch viel einfacher
und wohl auch richtiger, hier einerseits das instinktive
oder bewußte Bedürfnis nach einer geordneten Struktur
und gleichmäßigen Verteilung der Lasten (ebenso wie bei
den gleichen Abständen zwischen den Deckenbalken) zu
sehen und andererseits die unterbewußte Absicht, durch
eine geordnete Verteilung der Fenster im Äußeren und
Inneren des Hauses Unordnung zu vermeiden, weil sie

431
 
Annotationen