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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Ginsburger, Roger; Riezler, Walter: Zweckhaftigkeit und geistige Haltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0444

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unser Auge und optisches Gehirnzentrum ermüdet und
Unlustgefühle auslöst. Jedenfalls, sogar wenn man diese
Erklärungen ablehnt und sich mit der nichtssagenden Er-
klärung aus dem künstlerischen oder formalen Bedürfnis
begnügt, muß man zugeben, daß es sich bei der
Fensteranordnung eines Bauernhauses nicht um Über-
windung des Zweckhaft-Konstruktiven handelt, weder in
der Absicht noch in der Wirkung auf den Beschauer.

Betrachten wir nun die Bauten früherer Zeiten, welche
allgemein als „Baukunst" anerkannt werden und scheinbar
Ihrer Definition entsprechen, Bauten, die zum Ruhme oder
zum Andenken an eine v/eltliche oder übersinnliche Macht
errichtet worden sind und deren Schöpfer bewußt den
psychischen Eindruck von Ergriffenheit, von Größe, von
Reichtum oder Lebensfreude hervorrufen wollten. War
ihre Gestaltung, waren die Mittel, die sie anwendeten
um ihr Ziel zu erreichen, nun wirklich geistig-seelisch,
waren sie überrational? Sind andererseits die Gefühls-
regungen, die ihre Bauten verursachen, metaphysischer
Art? Kommt man zur Erklärung der sogenannten künstle-
rischen Gestaltung und ihrer Wirkung ohne das hypothe-
tische Element „Seele" aus oder nicht? Ich zögere nicht
damit zu antworten, daß heute schon die materialistische
Weltanschauung und Psychologie genügt, um beide Tat-
sachen zu erklären, trotzdem ich zugebe, daß einige
dieser Erklärungen noch wissenschaftlich experimenteller
Beweise bedürfen, weil die Wissenschaft, einerseits ge-
hemmt durch christlich dualistische Vorurteile, anderer-
seits, weil sie fast immer mit neuem Wissen wirtschaftlich
ausbeutbare Anwendungen zu erreichen sucht, sich noch
kaum mit dem Gebiete der Ästhetik befaßt hat.

Sogar den Eindruck des Mystischen, der von einem
gotischen Dom ausgeht, können wir verstandesgemäß
zerlegen in das Statische, das Optische, das Räumliche,
das Rhythmische und das Farbliche.

Das, was ich das Statische nenne, ist die zur
Spitze der Vollkommenheit getriebene, rein ingenieur-
mäßige Ausnutzung der Gesetze der Trägheit und des
Materialwiderstandes. Das Gefühl für die Spannungen
und Kräfte, die in den Pfeilern, Bogen und Widerlagern
arbeiten, das Gefühl der Masse und Wucht, das wir auch
vor einem nur zweckhaften Ingenieurbau, einem römi-
schen Aquädukt oder einem Stahlkran haben, dies Ge-
fühl ist eng verknüpft mit den ersten Kindheitseindrücken.
Die eigenen Bewegungen, die Geh- und Kletterversuche,
die ersten Auseinandersetzungen mit der Materie, mit dem
Stuhl, der umfällt und gegen den es sich stemmt, mit dem
Stock, den es biegt, graben Gefühlswerte in das Unter-
bewußtsein des Kindes ein, die später immer wieder an-
klingen. Je erstaunlicher eine statische Leistung ist, um
so mehr ist der Eindruck, den sie auslöst, mit einem Ge-
fühl von Furcht verbunden.

Als das Optische möchte ich die Mittel bezeichnen,
die einen gesuchten Eindruck verstärken sollen, z. B. den
Eindruck der Größe des Hauptschiffes durch das An-
bringen einer sehr kleinen Kanzel oder feiner Skulpturen,
den Eindruck der Feinheit und des Aufwärtsstrebens der
Pfeiler durch die Profilierung. Es sind also die Mittel
des Maßstäblichen und solche, die man in der Optik als
optische Täuschungen bezeichnet und physiologisch er-
klären kann.

Das R ä u m I i ch e brauche ich nicht weiter zu defi-
nieren. Die materialistische Erklärung der Affekte, die es
schaff^ kann von verschiedenen Beobachtungen aus-
gehen. Ein Mensch, der durch eine Tür hindurchgeht, die
kaum größer ist als er selber, wird eine unangenehme
Empfindung haben und sich unwillkürlich ducken aus

Furcht, seinen Kopf anzustoßen. Eine niedrige Decken-
höhe in einem Raum wird einen gleichen Eindruck her-
vorrufen. Das Betreten eines engen Ganges wird eben-
falls Unlustgefühle auslösen. Ein weiter Raum dagegen
gibt das Gefühl der Freiheit, des Aufatmens. Zwischen
diesen positiven und negativen Empfindungspolen liegen
die verschiedenen Stufen von Eindrücken und Kom-
binationen von Eindrücken, je nachdem wie der Gegen-
satz zwischen den Horizontalausdehnungen und der
Höhe gewählt wurde. Eine andere Erklärung statt dieser
oder zugleich mit ihr kann die Psychoanalyse geben. Sie
zeigt, daß Raumeindrücke angenehmer oder unan-
genehmer Art, die man im Traume gehabt hat, oft
Symbol sind für die Erfüllung oder Verhinderung eines
erotischen Wunschkomplexes, und es ist dann nahe-
liegend, in den Raumeindrücken des Wachzustandes eine
Resonanz erotischer Affekte zu sehen.

Die Erklärung für unser Empfindungsvermögen für das
Rhythmische liegt auf ganz ähnlichem Gebiete. Die
Reihenfolge gleicher Elemente oder auch eine gesetz-
mäßig abgestufte Veränderung ähnlicher Elemente er-
weckt sicher Empfindungsassoziationen von erotischen
und anderen physiologisch bestimmten Eindrücken, wie
z, B. denjenigen, welche die Verschnellerung oder Ver-
langsamung des Herzschlages auslöst.

Das Farbliche ist im Prinzip schon vollkommen
physiologisch erklärbar. Wir wissen, daß bestimmte
Farben die innere Sekretion verstärken, wahrscheinlich
weil sie von der Natur als Lockmittel für den Fort-
pflanzungsakt oder für das Nahrungsbedürfnis verwendet
werden. Wir wissen, daß ein Nebeneinander von sehr
hell und sehr dunkel ermüdet wegen der Unmöglichkeit für
unsere Pupille, sich auf beide Lichtstärken einzustellen,
wir wissen auch, daß harmonische oder diskordierende
Eindrücke von Farbkombinationen mit der Beschaffenheit
unserer Netzhaut zusammenhängen.

Daß die Erbauer der gotischen Dome das alles nicht
wußten und nicht bewußt, sondern gefühlsmäßig an-
wandten, ist kein Beweis für das metaphysische Wesen
ihrer Gestaltung. Es zeigt nur, was jeder an sich selbst
feststellen kann, daß es keine Grenze gibt zwischen dem
bewußten Denken, welches in präzise Worte faßbar ist,
und dem halbbewußten, empfindungs- und formhaften
Denken und außerdem dem vollkommen unterbewußten
Denken, dessen Ergebnis manchmal plötzlich im Bereich
des Bewußtseins erscheint, was die Dualisten und der
Volksmund dann Eingebung und Intuition nennen.

Wenn aber, wie ich behaupte, die Bauten, welche
Kunstwerke par excellence sind, in ihrer Entstehung und
Wirkung materialistisch erklärbar sind, dann fällt doch
die These von den seelischen Grundlagen der Baukunst
und der Kunst überhaupt, um die es ja eigentlich bei
unserer Diskussion geht. Dann ist es auch ganz be-
deutungslos, daß diese Bauwerke nicht aus Stoff, Arbeits-
weise und einem unmittelbar praktischen Zweck erklärt
werden können, sondern nur aus dem Zweck der psy-
chischen Wirksamkeit heraus, denn auch diese psychische
Wirksamkeit liegt ja nicht auf einer überirdischen Ebene,
und der Marxist kann hier feststellen, daß dies Ziel der
affektiven Beeinflussung immer von einer politisch und
wirtschaftlich herrschenden Klasse ausgeht und gewisser-
maßen die Betonung ihrer Machtposition vor den Unter-
worfenen und den Rivalen darstellt.

Wenn Sie nun von der heutigen Architektur ver-
langen, daß sie einen geistig-seelischen Ausdruck an-
streben solle, so könnte ich Ihnen nach dem Vorher-
gehenden nur kurz erwidern, daß diese Forderung

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