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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

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Heft 5
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Zucker, Paul: Neue amerikanische Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0173

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glückende, daß drüben, bei allen selbstverständlichen Wertunterschieden zwi-
schen den einzelnen künstlerischen Leistungen, Doktrinarismus, Prinzipien-
reiterei und theoretische Kunstrederei keinen Einfluß auf die Formgebung
haben. Keineswegs herrscht der Ingenieurbau, das „Prinzip reiner Sachlich-
keit“, so vor, wie unsere deutschen Vorkämpfer der „Moderne“ es so gern
möchten. Deswegen sind sie auch tief beleidigt und nehmen es Amerika
auch so übel, daß es sich nicht nach ihren Doktrinen richtet, kurz, daß
die Amerikaner nicht richtig amerikanisch bauen... (Sie wüßten es viel
besser!)
Und doch ist nichts lächerlicher, als den Vereinigten Staaten die Reali-
sierung übersetzter Inhalte deutscher Kunstzeitschriften aufreden zu wollen.
Denn immer wieder wird vergessen, daß man nicht Architektur hier und
Architektur dort vergleichen darf, daß andere Voraussetzungen auch andere
Kunst bedingen. Sie arbeiten anders, wohnen anders, essen und feiern anders
als wir. Und diese von der unsrigen so völlig verschiedene Schichtung
und Rhythmisierung des Lebens muß sich zwangsmäßig auch in der Ar-
chitektur ausdrücken, die ja nichts anderes ist als erstarrte Formung aller
vitalen Funktionen. Gegenüber der Raumnot, wie sie die Anhäufung unge-
heurer Menschenmengen auf der schmalen Halbinsel New Yorks oder der
Seelinie Chicagos darstellt, der Notwendigkeit, Speicher zu errichten für
den Zusammenfluß ungeheurer Getreidemengen, Früchte, Viehherden, gegen-
über europäischen Verhältnissen überhaupt nicht vergleichbaren technischen
Voraussetzungen, wie sie sich aus dieser Häufung von Menschen, Waren und
Verkehr, aus der Überspannung kontinentaler Entfernungen ergeben, gegen-
über wirtschaftlichen Faktoren, Bodenpreisen der City, Reklamenotwendig-
keiten, räumlichen Arbeitsorganisationen, sind eben alle formalen Fragen
durchaus sekundär.
Deswegen ist es auch müßig, die historische Entwickelung eines Gebäude-
typus geben zu wollen, sei es nun des sich im wesentlichen gleichbleibenden
kolonialen Landhauses, des Bahnhofes oder des Hochhauses. Alles Wesent-
liche wurde doch innerhalb der letzten beiden Generationen geschaffen.
Immer wieder schlägt die anscheinend unausrottbare Vorliebe der angelsächsi-
schen Rasse für gotische und pseudogotische Formen durch. Wenn diese
schon in England selbst für Kirchen, Pfarrhäuser und Colleges uns als Kostüm
und Atrappe, als nicht innerlich wahr erscheinen, so finden wir hier jene be-
rüchtigten Beispiele dreißiggeschossiger Bureauhäuser und anderer typischer
Zweckbauten, bei denen uns der Widerspruch zwischen ihrer modernkapi-
talistischen Zweckfunktion und einer rein äußerlichen Dekoration mit mittel-
alterlich-mystischen Formen absolut unerträglich wird. Man braucht wirk-
lich kein theoriebesessener Purist zu sein, um diesen Kathedralenstil, die erste
Periode des Wolkenkratzerbaus, völlig abzulehnen. Es war die dekorative Ver-
legenheitsgeste einer Generation, die noch nicht den Mut zu sich selbst
hatte.
Verglichen mit diesen pseudogotischen Architekturen sind diejenigen Hoch-
häuser und Bahnhöfe, die in Renaissance- und klassizistischen Formen errich-
tet wurden, relativ erträglicher. Obwohl es auch hier einigen guten Willens
bedarf, wenn wir dem Kranzgesims des Palazzo Strozzi in Höhe des dreißig-
sten Stockwerkes begegnen! Versuchen wir aber einmal uns umzustellen,
versuchen wir die bekannten Plattidüten, daß die Mediceer-Formen nicht in
das Zeitalter der Lokomotiven und Autos paßten, eine philosophische Er-
kenntnis, die jede achtzehnjährige Kunstgewerbeschülerin vertritt, einmal
zu vergessen, so erkennen wir bald, daß es sich bei diesen Formen keineswegs

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