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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

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Heft 6
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Möbius, Martin Richard: Henri Rousseau: zum Selbstbildnis von 1890
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https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0195

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Henri Rousseau / Zum Selbstbildnis von 1890
Mit fünf Abbildungen auf drei Tafeln* Von M. R. MÖBIUS

ZU den wenigen Ursprünglichen, deren Werk noch immer das Publikum
zur Selbstbewahrung und zum Mißtrauen herausfordert, gehört Henri
Rousseau, der Douanier, der 1910 gestorben, aber erst viel später der Aus-
gangspunkt einer breiten, heute ungemein verbindlichen Bewegung geworden
ist. Spricht man seinen Namen aus, so stiftet dieser ganz von selbst
ein heilsames Vertrauen zu der Unerschöpflichkeit der kunstschaffenden
Mächte in einer unmöglichen Zeit und erfüllt mit der Zuversicht, daß
trotz allem Kunst morgen und übermorgen noch hervorgebracht werden
wird. Vor seinem Werk wäre der geschichtliche Nachweis der Entwicklungs-
tatsachen ein Akt der Sinnlosigkeit; das Besondere aller seiner Bilder ist die
unvermittelte Gültigkeit ihres Daseins, die Unabhängigkeit von der Epoche.
Jederzeit könnte sich der Auftritt eines solchen Malers wiederholen, denn das
Wichtigste an ihm ist die Voraussetzungslosigkeit seiner Existenz. Er bedarf
nicht des geistes- und entwicklungsgeschichtlichen Rahmens, jener wie Uhr-
zeiger bewegten Komponenten, woraus bei anderen die Leistung resultiert,
er bleibt unversehrt von den Katastrophen und Sensationen des Tages und
nährt sich von der Unveränderlichkeit der gottgewollten Dinge der Natur.
Deswegen bleibt seine Gegenwärtigkeit immerfort bestehen, so wie heute
wird er auch morgen von derselben brennenden Wichtigkeit sein und niemals
vergessen werden. Wenn seine äußere Geltung einmal dem Schicksal ver-
fallen sollte, dem seinesgleichen zeitweilig auch unterlegen ist, wenn in irgend-
einer Zukunft eine widrige Bewegung sie verdrängen wird wie einst den
Ruhm Giottos, so birgt der unbeirrbare Geist der durch sein Werk geschaf-
fenen Gemeinschaft das Bild seiner Gestalt in stillen Tiefen und wahrt es,
bis die Zeit wieder gekommen ist. Denn dieser Maler ist mit seinen wenigen
Werken in die Reihe derjenigen getreten, deren geistiger Kontur eine zeitlose
Grundrichtung der menschlichen Seele umreißt: einfältige Liebe zum Wunder
des Daseins. Mit den einfachsten Mitteln hat er sich, getragen von dem aus-
dauernden Gefühl der Liebe, das heilig Ruhende der Welt erzwungen und
ein Beispiel ohnegleichen aufgerichtet.
Nichtsnutzig wäre hier die Geste des Stolzes, womit man die Sphäre eines
Künstlers betritt, um dessen Werte und Wichtigkeiten abzuschätzen, nichts
vermöchte die Bereitschaft zu allem Neuen und Erregenden; alles hängt
davon ab, ob ein Gefühl der Freundschaft aufkommt und die Annäherung
bestimmt. Wer mit konventionellen Ansprüchen ein gesichertes Verhältnis zu
dieser Malerei gewinnen will, der wird sich mit der Überzeugung eines fatalen
Dilettantismus hinwegbegeben müssen, denn in nichts anderem beruht die
Wirkung der Konvention, als in der peinlichen Empfindung einer persönlichen
Bedrohung durch die Aufforderung, alles Geleistete einmal zu vergessen und
sich selbst gegen das Neue ins Sichere und Rechte zu setzen. Die Gesell-
schaft, wie sie sich jederzeit als Feind jeder Ursprünglichkeit bewährt, hat
seinerzeit durch ihre Funktionäre den Bildern von Rousseau jenen Platz in
den Ausstellungen angewiesen, wo die Hausverwalter, Postbeamten und
Coiffeure ihre beiläufigen Arbeiten zu zeigen pflegten1). Auch die Kritiker
* Die Wiedergabe der Abbildungen von Henri Rousseau erfolgt mit freundlicher Genehmigung
der Societe du Droit d’Auteur aux Artistes, Paris (Vertretung: Galerie Flechtheim).

Der Cicerone, XVIII. Jahrg., Heft 6

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