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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

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Heft 16
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Alpatov, Michail Vladimirovič: Die altrussische Kunst und das Abendland
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https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0562

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Die altrussische Kunst und das Abendland
Von MICHAEL ALPATOFF-MO SK AU

Das Problem des abendländischen Ein-
flusses in Alt-Rußland ist schon längst her-
vorgehoben worden. Den russischen For-
schern des vorigen Jahrhunderts, die wie
das gesamte gebildete Rußland die alte
einheimische Kultur größtenteils von einem
europäischen Standpunkte aus betrachteten,
fielen vor allem anderen die in der bilden-
den Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts
häufigen Entlehnungen einzelner Motive
abendländischer Vorlagen auf. Man pflegte
diese Entlehnungen gerne als die wichtig-
sten treibenden Kräfte der altrussischen
Kunst anzuerkennen h
Nun hat sich während der letzten 10—15
Jahre erwiesen, daß Alt-Rußland im Laufe
des Mittelalters eine völlig selbständige
und eigentümliche Kunstanschauung be-
saß. Ausgezeichnete Werke der altrussi-
schen Ikonenmalerei sind die besten Zeu-
gen einer merkwürdigen Weltanschauung,
die zusammen mit den gleichzeitigen Hei-
ligenlegenden von einem hohen und dem
Abendlande und dem christlichen Orient
entgegengesetzten Geistesideale durchsetzt
sind. Und dennoch sind die regen Bezie-
hungen nicht nur der Hansastadt N o wgorod,
sondern auch der Moskauer Zaren, ja sogar
der Großfürsten von Wladimir-Suzdal mit
den abendländischen Kunstzentren nicht zu
verkennen. Es sind vor allem historische
Nachrichten vorhanden, aus denen wir über
die Beteiligung abendländischer Künstler
an der Errichtung und Ausschmückung von
russischen Kirchen erfahren. Auch auslän-
dische, hauptsächlich deutsche Kunstwerke
wurden in großer Zahl nach Rußland im-
portiert. Zu schweigen von den berühmten
Korsunischen Türen in der Sophien-Kathe-
drale in Nowgorod (aus Magdeburg), die
auch im Abendland bekannt sind, sollen
noch zwei ausgezeichnete, im Gebiete Wla-
dimir entdeckte Emailplatten mit den Dar-
stellungen der Kreuzigung und der Auf-
erstehung (die erstere in der Sammlung
Botkin, die zweite — Wladimir, Museum)
erwähnt werden, da sie den besten rheini-
schen Emailarbeiten des 12.—13. Jahrhun-
derts kaum nachstehen. Sechs Heiligenbilder
(Nowgorod, Antonius-Kloster), die der Über-
lieferung nach vom heiligen Antonius aus
Rom hergebracht wurden, sind in Wirk-
lichkeit Emailarbeiten aus Limoges. Auch
jetzt kommen aus der Erde bisweilen abend-
ländische Emaillen und Aquamanile zum
Vorschein (z. B. Twer, Museum usw.).
1 Die Ansicht über die große kulturhistorische Bedeu-
tung des Abendlandes für Altrußland vertritt auch Ediger,
Rußlands älteste Beziehung zu Deutschland usw. 1911.

Hier sei noch der Tatsache zu geden-
ken, daß auch in Deutschland, nämlich
in Hildesheim, ein nowgorodischer Reli-
quiar des 13. Jahrhunderts aufbewahrt wird1 2,
um sich die regen künstlerischen Bezie-
hungen zweier Nachbarländer zu vergegen-
wärtigen. Endlich findet man bisweilen
auch in Werken russischer Meister Er-
zeugnisse abenländischen Einflusses.
Dem modernen Kunstforscher kann aber
die Feststellung dieser Tatsachen kaum ge-
nügen, denn nicht die Einzelfälle für sich,
sondern eine zusammenhängende Kausali-
tät ist für ihn das wichtigste: nicht nur eine
Katalogisierung der einzelnen Zeugnisse
abendländischer Einflüsse, sondern die
Frage, v/ie tiefgehend für die selbständige
Entwicklung deren Wirkung war. Das Pro-
blem des abendländischen Einflusses wird
von mir von diesem Standpunkte aus be-
trachtet. Als Ergebnis einer Prüfung von
einzelnen Beispielen eines unmittelbaren
Zusammentreffens deutscher Vorlagen mit
russischen Meistern läßt sich aussprechen,
daß der eigentlich westeuropäische Stil-
charakter dieser Vorlagen in den russischen
Wiederholungen gewöhnlich zugrunde geht
und ihr ursprünglicher Geist von den rus-
sischen Meistern mißverstanden wird.
Hier kann ich nur auf einzelne Beispiele
eingehen. Es unterliegt keinem Zweifel,
das Motiv der vier, ein Panagiar (d. h. zwei
Schalen) tragenden Engel, das in Byzanz
und Rußland gewöhnlich fehlt, ist in einem
bekannten analogen Werke (Nowgorod,
Sophien-Kathedrale, 1436), das von dem
durch s ein e nahenB eziehungen mit denD e ut-
schen bekannten Erzbischof Euphimius ge-
stiftet wurde, einem romanischen Werke
in der Art eines Kappenberger Reliquiars3
entlehnt worden. Das wichtigste ist aber
für die Forschung, daß die ursprünglich
dreidimensionalen und räumlich empfunde-
nen abendländischen Gestalten in Rußland
ihre Körperlichkeit verlieren und flächen-
haft behandelt werden, mit einem Worte,
dem für die gesamte altrussische Kunst des
15. Jahrhunderts bezeichnenden Stilprinzip
unterworfen werden. Andere Beispiele lie-
fert die Miniaturmalerei. Eine illustrierte Bi-
bel von 1477 (Moskau, Synodalbibliothek)
aus Nowgorod zeichnet sich durch gotische
HintergTundsarchitekturen mit schlanken
1 G. Schlumberger, L’epopee byzantine. II, S. 124—25,
III, S. 289.
2 Wir bedauern sagen zu müssen, daß die ausgezeich-
nete Gesch. d. K. von K. Wörmann, Bd. IV (1919), S. 317
darüber falsche Auskunft gibt. — P. Clemen, ,,Zeitschr. f.
bild. Kunst“, 1902, S. 36.

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