Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

DOI article:
Villon, Pierre: "Was ist modern?"
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0021

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
sie es sind, dann würde die gleiche Gesetzmäßig-
keit der Lebensbedingungen, der konstruktiven Mög-
lichkeiten und der sozialen Voraussetzungen in
ihren Bauten zum Vorschein kommen. Und alles
Gesetzmäßige erscheint geordnet und
sinnvoll, sei es ein Haus, ein Baum, ein
Blatt oder ein Tier.

Denselben Fehler der Erziehung wie bei den
Architekten finden wir bei den Kunstgewerblern
wieder. Einen guten Handwerker nannte man früher
einen Künstler in seinem Fach, und nun plötzlich hat
man im letzten Jahrhundert den Kunstgewerbler er-
funden, dessen Streben danach gehen sollte, nicht
etwa in einem Beruf ein großer Könner zu sein, son-
dern die Kunst mit großem K wie etwas Heiliges in
die niedrigen Gewerbe hineinzutragen. Die Herstel-
lung von Möbeln und von Büchern, von Tintenfässern
und von Serviettenringen sollten durch sie in eine
höhere Sphäre gehoben werden. Als ob es nicht
genügt hätte, daß ein Buch dauerhaft und gut anzu-
fassen ist, daß ein Möbel seinen praktischen Zweck
erfüllt, ein Tintenfaß schwer umzustoßen ist und
ein Serviettenring eine Serviette hält.

Wenn nun Professor Frank von dem Typus Kunst-
gewerbler behauptet, er könne keine Typenware
entwerfen, da er individuell denke, so ist es insofern
richtig, als er eben nicht genug auf das Durchdenken
eines Gegenstandes ausgeht und immer wieder die
künstlerisch reine, eigenartige Form sucht, weil ihn
eben seine Erziehung verbildet hat. Was aber das
individuelle Denken des Kunstgewerblers betrifft,
das ihm Professor Frank als ein Plus anzurechnen
scheint, so kann man ruhig sagen, daß es sehr wenig
weit geht. Wenn man heute die Kunstgewerbezeit-
schriften früherer Jahrgänge durchblättert, so fälit
einem unbedingt die modische Verwandtschaft zwi-
schen den Einzelstücken auf, die in gleicher Zeit
von verschiedenen Kunstgewerblern hergestellt
worden sind. Wenn man also glaubt, es sei nötig,
daß Gegenstände existieren, welche als Einzelstück
gedacht sind, und daß ihre Eigenart und ihre Indivi-
dualität ihren Reiz und ihren Wert ausmacht, dann
haben auch die Kunstgewerbler dieses Ziel nicht
erreicht.

Es ist sogar nicht, wie man immer glaubt, im Sinn
des Handwerks. Einzelstücke, die in ihrem Wesen
verschieden sind, herzustellen. Die Verschiedenheit
der handwerklichen Produktion früherer Jahrhun-
derte war nur eine Folge der Ungenauigkeit der
Handarbeit, der kleinen Verschiedenheiten der Denk-
art von Menschen, die derselben Zeit und Kultur an-
gehören, und sie war so nebensächlich, äußerlich,
daß sie außer acht gelassen werden kann.

Im Sinn der Maschinenarbeit ist es natürlich erst
recht nicht, Einzelstücke hervorzubringen. Aber ist
das ein Fehler? Ist es nicht im Gegenteil eine
Garantie, daß ein Gegenstand, der durch die Ma-
schine hergestellt werden soll, erst vollkommen
durchgedacht, auf seine Zweckmäßigkeit geprüft
und immer wieder verbessert werden muß, ehe es
sich rentiert, ihn in Tausenden von Stücken herstel-
len zu lassen? Diejenigen, welche immer gegen die
Maschinenarbeit ankämpfen, vergessen nicht nur.
daß sie es möglich macht, für alle Menschen Waren
zu schaffen, welche das Leben angenehmer machen.
Sie vergessen besonders, daß die industrielle Pro-
duktion heute noch immer nicht voll entwickelt ist,

daß nur manche ihrer Erzeugnisse wirklich den Mög-
lichkeiten der Maschine entsprechen.

Ich möchte auf die Entwicklung hinweisen, den ein
Gegenstand wie das Telefon in wenigen Jahren ge-
macht hat. Bei solchen Dingen, für die es keine im
voraus festgelegte handwerkliche Form gab, wo
außerdem vollkommen neue Herstellungsmethoden,
wie das Stanzen, Pressen und Schweißen, verwen-
det werden konnten, hat die Industrie wirklich etwas
geleistet, was man als bezeichnend für ihre Mög-
lichkeiten ansprechen kann. In diesen Dingen konnte
auch weder der Kunstgewerbler noch irgendein
anderer, außerhalb des Fachs Stehender irgendwie
mithelfen. Da, wo der Kunstgewerbler mithelfen
könnte, da er doch auf das Verwendungsproblem
eingestellt ist, bei Möbeln, Bestecken und Buch-
einbänden, da hindert ihn wieder seine Erziehung,
die ihm ein falsches Ziel geschaffen hat.

Da, wo die Industrie Schund hergestellt hat, da ist
es sehr oft. weil sie das Kunstgewerbe in Serie ko-
pierte und sich ebenfalls das Ziel setzte, neue For-
men zu finden.

Kürzlich hatte ich mit dem Besitzer einer der gro-
ßen Baubeschlägefabriken in Frankreich eine sehr
lehrreiche Unterhaltung darüber.

Als ich ihm sagte, er solle doch lieber statt seiner
dreihundert verzierten Türklinken nur eine einzige
gute in zwei oder drei Ausführungen und Größen her-
stellen, dann würde er den ganzen Vorrat von Mo-
dellen, von welchen alle paar Monate nur eines ver-
langt wird, los sein, er brauche viel weniger Büroper-
sonal dafür und Klinken würde er doch verkaufen,
da man sie immer braucht und da er sie, so organi-
siert, billiger verkaufen könne als ein anderer, er-
widerte er mir mit Pathos, er sehe schon, ich gehöre
auch zu den Leuten, die Frankreich amerikanisie-
ren wollten!

Diese Angst vor dem Amerikanisiertwerden ist
eine der großen Hemmideen gegen jeden Fortschritt
in der wirklichen Rationalisierung der Arbeit und
in der Herstellung typisierter Gebrauchsgegen-
stände. Diesbezüglich ist es sehr lehrreich, das
Buch des französischen Arbeiters Dubreuil. der ein
Jahr in Amerika gearbeitet hat. zu lesen. Durch ihn
erfahren wir, daß die Mechanisierung der Arbeit,
das heißt, die Erleichterung der Arbeit mit Hilfe der
Maschine, sie nicht im geringsten unangenehmer
macht, und er führt Beispiele an, die zeigen, daß
man auch in solchen typisch amerikanischen Betrie-
ben wie Ford, sehr wohl Freude an der Arbeit sei-
ner Maschine haben kann und gerade in Amerika der-
jenige vorwärts kommt, welcher auch vor seiner
Maschine noch denkt, sie zu behandeln versteht und
Verbesserungen ihrer Funktion und Arbeitserleich-
terungen für sich selber erdenkt.

Den einzigen Vorwurf, den man der Mechanisie-
rung der Arbeit wirklich machen kann, ist der, daß
sie Überproduktion und Arbeitslosigkeit schafft.
Dieser Vorwurf trifft aber nicht die Maschine und
diejenigen, die sie erfunden haben und sie verwen-
den, sondern er trifft die wirtschaftliche Organisa-
tion der Welt.

Wenn Sie mich jetzt fragen, was ist nun eigent-
lich modern? so müssen wir uns, bevor ich eine
Antwort gebe, darüber klar sein, was man unter
modern versteht. Versteht man darunter alles, was
unsere Zeit enthält, alles, was ihr Gesicht ausmacht,

9
 
Annotationen