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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 14.1916

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Heft 8
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Waldmann, Emil: Das griechische Kultbild im Berliner Museum
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https://doi.org/10.11588/diglit.4751#0399

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nur eben, weil wir es noch mit einer grossen
schöpferischen Anschauung zu thun haben, so jen-
seits alles bloss Handwerklichen und so von Leben
gefüllt, dass man die Technik nicht mehr merkt.

Das Werk stand in dem Tempel, der dieser
Göttin gehörte, hinten in der Zella, als einziges in
dem Raum. Da die griechischen Tempel damals im
Dach und in den Wänden keine Fenster hatten,
bekamen sie das einzige Licht von vorn, wenn die
Thüre geöffnet wurde, wenn die Fülle des Sonnen-
lichts eindrang und weitergetragen wurde von den
spielenden Reflexen der marmornen Fussböden und
Wandflächen. Sie stand wohl niedrig, bei weitem
nicht so hoch wie die plastischen Gruppen auf
christlichen Altären, vielleicht nur einen Fuss hoch
über dem Boden, so dass der Blick des Betrachters
die Körpermitte traf. Wenn nun die Thür sich
öffnete, so kam mit dem Licht auch ein feiner
Wind in den Tempel hinein, und deshalb flattern
die Mantelenden ein wenig nach rückwärts; sehr
menschlich und sehr irdisch stand sie dann da und
doch wie eine Vision. Die Farbe, die sie hatte und
die wir uns nach den fein getönten Weihstatuen von
derAkropolisinGedankenergänzen können,muss das
Menschliche, das Lebendige, gegenüber dem heutigen
Eindruck noch um ein Weniges verstärkt haben.

Moderne Vorstellung kann sich schwer an den
Gedanken gewöhnen, dass ein solches Kultbild mit
sich allein im Halbdunkel war. Aber man kann
sich doch auch heute noch im Geiste vergegen-
wärtigen, wie gross innerhalb dieser Tempelarchitek-
tur mit den streng dorischen Formen und den
schmucklosen einfachen Flächen, innerhalb einer
Formenwelt, wie sie etwa der Tempel auf dem
Hügel in Aegina zeigte, die Göttin gewirkt haben
muss: die einzige plastisch belebte Form im Raum!
Wo der Tempel stand, für den dieses Bild
gemacht war, ist heute noch nicht bekannt. Soviel
indessen ist wohl sicher, dass er einer der unter-
italienischen Städte gehörte, die, als dorische
Kolonien, gegenüber dem eigentlichen Griechen-
land die grossgriechische Welt bedeuteten, das
grosse Kolonialreich dieser welterobernden Kultur.
Ob ein aus Griechenland gebürtiger Künstler das
Werk geschaffen hat oder ein Koloniale, auch

darüber kann man einstweilen ebensowenig sagen
wie über den engeren Kunstkreis, in den das Werk
einzureihen ist. Angesichts derartig erhabener Dinge
hört ja die Kunstgeographie überhaupt auf, man
kann da nicht mehr von parischer oder naxischer
oder attischer oder attisch-jonischer oder gross-
griechischer Kunstschule sprechen, sondern muss
sich bei dem Gedanken begnügen, dass dies eben
griechisch ist.

Die Göttin ist ja wohl nicht so attisch wie die
frühsten Werke der Akropolis, etwa wie die Figur
des Antenor, die aussieht wie ein verkleideter
Mann, nicht so attisch auch wie die letzten Gestalten
dieser Gruppe, etwa wie die Figur Euthydikos.
Aber sie ist auch nicht so jonisch wie die berühmte
dunkelfarbige Mädchenstatue von der Akropolis
oder wie das Fragment von Theseus und Anthiope
aus Chalkis. Das Verwandteste, was wir besitzen,
ist die kleine eilende Artemis im Neapler Museum,
aber das ist nur eine römische Kopie, so dass auch
von hier aus kein Rückschluss möglich wird über
den Schulzusammenhang, in den die Göttin hinein-
gehört, oder den sie beherrscht. Doch auch der
Wagenlenker in Delphi und der Aphroditethron
in Rom sind ja ihren Schulzusammenhängen nach
nicht zu lokalisieren, Schöpfungen von dieser Grösse
stehen über der Grenze.

Wenn aber auch diese Neugier unbefriedigt
bleibt, soviel sehen wir, dass wir hier eine Schöp-
fung eines der allergrössten frühgriechischen Bild-
hauer vor uns haben. Eine Schöpfung von einer
künstlerischen Schönheit, wie sie sonst nur noch
zwei, drei andere Werke in der Welt uns zeigen.
In die Reihe der Städte, in denen man die beste
griechische Kunst der grossen Zeit suchte: Delphi,
Olympia, Rom, Boston ist nun auch Berlin einge-
treten und steht hier mit an allererster Stelle.

Dass dieses möglich war, wird der Opfer-
freudigkeit von begeistertenKunstfreunden verdankt,
die das Werk nicht wieder ziehen lassen mochten
und die trotz Kriegsanleihe und Steuern doch noch
die zur Erwerbung dieses einzigartigen Meister-
werkes nötige Summe zusammengebracht haben,
weil es sich hier um eine nationale Angelegenheit
für die deutsche Kultur handelt.

Lein

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