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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0119

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nachbilden und so auch die mit ihnen
verbundenen Gefühle in sich nacher-
zeugen kann — das ist die Hauptaufgabe
der Erziehung zum Genusse von Dicht-
rverken, auch für die Schule. Jn Wei-
mar rvird man ja davon sprechen.
Jedenfalls ist auf diesem Felde mit
Literaturgeschichte so menig ge-
tan, rvie auf dem Nachbaracker mit
Kunstgeschichte. Wenn man aber Lite-
raturgeschichte treibt, sollte man das
wenigstens mit guten HilsZmitteln tun,
wie wir deren seit den letzten Jahren
emige ja haben. Was wird aber da noch
gesündigtl Vor mir liegt die „Geschichte
der üeutschen National-Literatur", die
Prof. Dr. Hermann Kluge „zum Ge-
brauche an höheren Unterrichtsanstal-
ten" jetzt erst wieder, im Jahre t903,
bsarbeitet hat. Das bedeutet: für ihre
vierunddreißigste Auslage. Da
mich dieseTatsache überdieVerbreitung
des Buches belehrt, spreche ich, nun ich's
kennen gelernt habe, ruhig üie Be-
hauptung aus: es trägt an dsr Er-
bärmlichkeit der literarischen Unkultur
bsi unsern sogenannten Gebildeten eine
Mitschuld.

Jch habe hier keine Kritik des Buches
zu geben — müßte ich's tun, ich wüßte
nicht, wo anfangen und wo aufhören,
üenn an dem Wesentlichen, am Ver-
ständnis für die geiftigen Werte der
Dichter und Schriftfteller, gebricht es
dem Verfaffer fo, wie mir's trotz aller
Lsiftungen darin doch noch bei keinem
anderen Buche mit gleichen Anfprüchen
vorgekommen ist. Wo die Vorarbeiten
versagen, wo aber anderseits wegen
der Verpflichtung gegen die Mitleben-
den das Bestmögliche am allsrdring-
endsten zu wünschen ist, da wird's bei
Kluge am allerschlimmsten. Nicht etwa,
daß er sür die Neueren überhaupt
nur wenig Raum übrig hätte; Dichter-
lingen wie Baumbach, ja wie Otto
Weddigen, wird je rund eine halbe
Seite der „Charakteristik" zugewiesen.
Es wird aber noch viel schöner.
Ein Georg Ebers, der mit

wahrer Begeisterung gepriesen wird,
erhält gut anderthalb Seiten, d. h.
mehr Raum, als Friedrich Hebbel,
Otto Ludwig, Theodor Storm, Gott-
fried Keller, Klaus Groth, K.F. Meyer
und Eduard Mörike, kurz, als
die sämtlichen Großen unsrer
neueren Literatur zusammen.
Gewiß, man muß das sehen, um's
für möglich zu halten. Es ist sörm-
lich auszumesfen: je bedeutender einer
ift, je mehr schrumpft er bei Kluge
zusammen. Mörike bekommt einschlisß-
lich des Biographischen zwölf, Gott-
fried Keller acht, Otto Ludwig sechs
Zeilen. Aber ich will Zum Schluß
von diesem Musterwerk eine Druck-
probe geben, drei Vesprechungen von
Dichtern so, wie sie im Originale selber
gesetzt sind, üann wird erft ganz klar,
wie schön Kluge auch unsrer alten For-
derung gemäß „Abstände hält", damit
Große und Kleine nicht durcheinander
kommen:

„Julms Wolff, geb. s6. Sep-
tember in Quedlinburg (jetzt
in Berlin), zählt zu den bedeuten-
deren jetzt lebenden deutschen Dich-
tern. Dem Versasser des „Trom-
peter von Säkkingen" nahe ver-
wandt, beherrscht er die deutsche
Sprache wie selten einer, weiß
unsere Phantasie lebhast anzuregen,
Herz und Gemüt zu bezwingen, wie
es nur der wahre Dichter versteht.
Jn seinen Epen „Der Ratten-
sängervon Hameln" und „Der
wilde Jäger" behandelt er mit
außerordentlichem Geschick die alte
Volkssage. Jn seiner nächsten um-
fangreichen Dichtung „Der Tann-
häuser", worin er die Figuren
Tannhäusers und Heinrichs
von Ofterdingen zu einer ein-
zigen verschmilzt und diesen seinen
Helden, nachdem Papst Jnnocenz III.
in Rom den Fluch über ihn aus-
gesprochen, aus der Burg Küren-
berg bei seinem Jugendfreunde das
Lied von den Nibelungen dichten

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