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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI issue:
Heft 4 (2. Novemberheft 1903)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunstwarts für 1904, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0214

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das möglichst Gediegene zu verschaffen suchte, und er wird hier fo
lange fehlcn, wie eine sanfte Ueberredung hinten aus dem Annoneen-
teil zwischen die kritischen Stimmen im Vordergrunde hereintönt. Wir
wiederholen, was wir von einem guten literarischen Beirat wünschten,
weil es andeutet, was wir selbst uns als Ziel steckten. Voraussetzung
jeder ernsten Reform ist natürlich die Unabhängigkeit von geschäft-
lichen Einslüsterungen. Der „Ratgeber" muß als Kunstwarthest natür-
lich Anzeigen aufnehmen, wie alle anderen Kunstwart- und Zeitschrift-
hefte überhaupt, seine Sonderausgabe als Weihnachtskatalog aber ver-
zichtet nach wie vor darauf, auf diesem Wege die Kosten hereinzu-
bringen. Abgesehen also hiervon wünschen wir:

Erstens und hauptsächlich: keine Beschränkung auf das Aller-
neueste. Wenn unsre Weihnachtskataloge auch besser würen, als sie
sind, sie genügten schon deshalb ihrer Ausgabe nicht, weil sie bloß die
Novitäten besprechen. Jst ein Buch älter als ein Jahr, so fällt's unter
ihren Tisch, und so tun sie das ihrige dazu, das Nouveauts-Wesen
auch beim Bücherhandel hübsch oben zu halten. Aber das deutsche
Schristtum besteht ja nicht bloß aus dem, was im letzten Jahr neu
verlegt ist, also hat ein guter Kaufberater etwas anderes zu sein
als ein Jahresbericht. Jenes Neueste, das heute mit zwanzig Pauken
dahertrumpst und übers Jahr zu neun Zehnteln bereits verstinrmt
und verstummt ist, es stellt sich alljährlich breit und mit Geschrei
vor das gediegene Aeltere. Beizutragen, daß dem anders werde, gerade
das schiene uns Aufgabe der Weihnachtskataloge zu sein. Jn jedem
Jahre müßte ein guter Weihnachtskatalog jedem, der es wollte, die
Möglichkeit geben, nachzusehn, was die strengste Kritik ihm als das
beste empfiehlt von allem, was da ist. Man denke einmal, ein
Weihnachtskatalog hätte seit fünfundzwanzig Jahren gesagt: Lest Keller,
Mörike, Hebbel, Ludwig (Dichter, über welche die ernste Kritik längst
eines Sinnes war) und laßt die Marlitt, Julius Wolff, Paul Lindau,
Ebers, Eckstein und wie alle die Damen und Herren a 1a moäs hießen,
vertrocknen, man denke, die Kritik hätte das wieder gesagt vor jeder
Weihnacht ein jedes Jahr: ist es wahrscheinlich, daß die echten Gesund-
brunnen im Wald dann so lange ungenutzt geflossen wären? Ein guter
Weihnachtskatalog sollte unbestechlich und unermüdlich sein in seinem
Hinweis aus das, was dauert, damit man's durch Geschüste und Mode-
macherei hindurch so srüh wie möglich als lebenzeugendes Leben erkenne.

Zwcitens: Die einzelnen Jahresernten vertragen allerdings
eine so strenge Sichtung kaum. Zugegeben, sie bedürfen ihrer auch kaum.
Was einer vor allem andern liest, soll das Beste sein, aber er
kann nicht nur das Beste lesen. Zudem kann ja manches für heute
von Wert sein, was morgen gleichgiltig ist. Trotzdem sollte doch auch
beim Besprechen der neuen Erscheinungen immerhin eine Auslese nnd
eine Ordnung sein, sollten irgendwelche Maßstübe angelegt, sollten
doch Abstände gehalten werden. Was hilft es, wenn man Groth oder
Fontane einen echten Dichter nennt, nennt man gleich daraus Tinchen
Schulze oder Nataly Eschstruth eine echte Dichterin? Oft drüngt sich
der Verdacht auf: Hier hat jeder Rezensent gerade die Bücher zur
Besprechung bekomuren, die gerade er erklürte, empfehlen zu können.
Ausnahmesülle sind zugegeben, — im großen Ganzen hat, wer unsere

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