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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1903)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunstwarts für 1904, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0215

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Weihnachtskataloge unbefangen durchliest, den Eindruck der Alles-
loberei. Wo trügen sie zur Gruppierung, zur Sichtung bei?

Drittens: Machen schon die Besprechungen solchen Eindruck, so
verstürken ihn die Listen. Jn ihnen ist auch die ältere Literatur
vertreten, aber ich frage jeden Buchhändler auss Herz: ist sie's nach
einem andern Gesichtspunkte, als nach dem der „Gangbarkeit"? Jch
blättre in der Liste der Erzählungen, ja sreilich, da drohen auch sie
mit den vollen Breitseiten ihrer poetischen Entladungen, die Ballestrem,
die Marlitt, die Heimburg usw., und zwischen ihnen sitzen all die
Männlein herum, die alljährlich ihre beliebten poetischen Strümpfe
stricken. Sagt ihr, das Publikum will das einmal, gut. Nur bitten
wir dann, keine Entrüstung zu markieren, wie damals, als wir im
Kunstwart zuerst diese Weihnachtskataloge ohne Umschleierung des
Sachverhalts eben geschäftliche Unternehmungen nannten.

Deshalb also versuchten wir's seit l.899 mit einem eigenen Weih-
nachtskatalog. Wie viel Fehler er hatte, drei gute Eigenschasten mußte
er einsach als Folgen seines Planes haben: er gab, erstens, Ueber-
sichten nicht nur über die Neuheiten, sondern über Gesamtlitera-
tur, so weit sie in Frage kommt, er sprach, zweitens, auch von den
Neuheiten nur mit vorsichtiger Auswahl, er stellte, drittens, Listen
aus, die den Schund, den es in unserer Literatur zu bekämpsen gilt,
und die kleinen netten Sachen, welche die Mode groß aufgeblasen
hat, nicht in all ihren Prachten weiterverluden.

Trotz aller theoretischen Erkenntnis von der Notwendigkeit solchen
Bersuchs überraschte uns der Erfolg. Der Buchhandel, der sich um
die Voranzeige unseres Katalogs in den Fachblättern sehr wenig ge-
kümmert hatte, begann nach dem Erscheinen so eisrig zu bestellen,
daß unsere ganze stattliche Sonderauslage in etwa drei Wochen bereits
vollkommen vergriffen war. Die Teilnahme im Leserkreise war im
höchsten Maße erfreulich. Und sie erlosch nicht mit der Weih-
nachtszeit. Das ganze Jahr hindurch bewiesen uns Zuschriften
das, was andere Beobachtungen bestütigten: Wir brauchen nicht nur
einen Weihnachtskatalog, wir brauchen eine kurze kritische Uebersicht
nicht nur über Geschenkbücher, sondern wir brauchen einen Berater
über die gesamte Literatur, soweit sie sür den gebildeten
Bücherfreund außerhalb seines Fachstudiums in Frage kommt, eine
Uebersicht, die ihm das ganze Jahr hindurch ihre Dienste leistet.

Diese Erkenntnis zeitigte in uns natürlich den Wunsch, den
Mängeln abzuhelsen. Unsere sämtlichen Mitarbeiter lasen, notierten,
kritisierten und rubrizierten die Monate seither, saßten dann zusammen
und unterbreiteten dann den Lesern das Ergebnis. Da uns die Kunst
nur ein Weg zu Natur und Leben ist und nicht der einzige, das
Leben selbst aber die große Hauptsache, ans die alles ankommt,
so galt es serner, anch die Gebiete sür uns zu öfsnen, in denen der
Gebildete sonst noch zu schauen und zu sinnen verlangt. Die „Ueber-
griffe", dic wir schon manchmal in „sremde" Gebiete getan, wir mußten
sie diesmal noch weiter tun. Hosfentlich verzeihen's uns die Herren
von den Religionswissenschasten, von der Philosophie,
von den Naturwissenschaften, von der Geschichte, von der
Länder- und Völkerkunde, daß der Kunstwart für ihre Reiche

2. Novemberheft 1905

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