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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1903)
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Batka, Richard: Berlioz: zur Jahrhundertfeier seines Geburtstages
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0385

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sich das gewöhnlich so vor, daß der gute Musikus, weil ihm in me-
lodischer Hinsicht nichts Besonderes einfiel, desto tiefer in die Farben-
töpfe griff und durch raffinierte Mischungen blendende koloristische
Effekte schuf, um über die Aermlichkeit der Zeichnung hinwegzutäuschen.
Solche Aussassungen verraten wenig Einsicht in den Vorgang künst-
lerischen Schaffens. Man vergißt, daß die Klangfarbe für Berlioz nicht
bloße Zutat, sondern ein Ausdrucksmittel bedeutete, er „instrumen-
tierte" nicht eigentlich, sondern schaute von vornherein alles instru-
mental, er erfand seine Melodien jeweils aus der Jndividualität, aus
dem Geiste der Jnstrumente heraus. Da geschieht es denn oft, daß er,
dem der Tongedanke sich stets sogleich mit voller Leuchtkrast vorstellte,
die Ausprägung der melodischen Linie und die thematische Arbeit ver-
nachlässigt. Jch bin weit davon entfernt, dies als einen besondern
Vorzug zu bezeichnen, aber gewiß tun alle Berlioz schweres Unrecht
an, die seine Musik nach dem Klavierauszuge bewerten. Berlioz be-
reicherte das symphonische Orchester um mehrere Jnstrumente, wie
Harfe, Englischhorn, Ophikleiden, er bot zuweilen ungeheure instru-
mentale Heerscharen auf (im „Requiem" Posaunen, ebensoviel
Trompeten und Pistons, (2 Hörner, 8 Paar Pauken usw.), allein nichts
wäre irriger, als die Wirkung seiner Orchestersprache dieser Häufung
der Mittel, diesem Arbeiten mit dem Elementaren des Klanges in
Masse allein zuzuschreiben. Oft erzielt er gerade mit dem einfachsten
Apparat die wunderbarsten, ja unerhörte Neize, er wirkt nicht nur
durch das Forte, sondern auch durch das Piano, und eben so oft durch
die Konsonanz wie durch die Difsonanz seiner Harmonik.

Als genialer „Finder" ist Berlioz ferner auf die iäss kixs, auf
das Leitmotiv, geraten, das durch ein Werk wie ein roter Faden
geht und eine wiederkehrende Vorstellung, eine Person oder eine Emp-
findung kennzeichnet. An Stelle der in der klassischen Zeit üblichen
formellen Variation eines Themas nutzte er zuerst bewußtvoll die
Fähigkeit der Musik aus, durch Veränderungen des Zeitmaßes, des
Rhythmus, der Harmonie oder Klangfarbe an ein und demselben
Motiv verfchiedene seelische Stimmungen auszudrücken. Diese „psycho-
logische Variation" ist zum Prinzip der Wagnerschen und seither der
ganzen neueren Kompositionstechnik geworden.

Damit sind die wichtigsten — man darf nicht sagen: Anregungen,
man muß schon sagen Antriebe genannt, welche die Tonkunst Berlioz
verdankt und die sein Schafsen als einen Markstein der Musikgeschichte
erscheinen lassen. Er war eine Progonennatur mit allen Verirrungen,
die dem ersten Psadsucher zuzustoßen pflegen und die der Nachsahre
dann leicht vermeiden kann. Von seinen Werken ist die „Phantastische"
des Stoffes wegen bei uns jetzt weniger gern gesehen als „Harold",
worin er das Leitmotiv durch ein Leitinstrument, die Solobratsche,
verstärkte. Das Experiment ist recht äußerlich. Aber wer vermöchte
sich seinem Zauber ganz zu verschließen, wenn z. B. im Serenadensatz
die bäurische Weise des gehörten Ständchens dem Helden verklärt
und veredelt bis in den Traum hinein durch die Seele zieht? Und
die Ball- und Liebesszene, sowie der Fee Mab-Satz in der Nomeo-
Symphonie gehören, an sich betrachtet, gewiß zu den eigenartigsten
Orchesterwerken des Jahrhunderts. Sehr bedeutend, wenn auch
sehr theatralisch, ist das für eine pomphaste Trauerseier im Jnvaliden-

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1. Dezemberheft 1903
 
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