Goethes klemere Crzählungeiu
Novelle zu sklavisch folgte. Der Grund, weshalb sie nicht
urwüchsig deutsch, vielmehr gleichsam in ein Form-
korsett gepreßt scheint, ist wohl der, daß echt deutsche
Form eben immer minder glatt und elegant, dafür
aber auch saftiger, kräftiger, farbenglühender ist als ro-
manische: möglicherweise, weil der nordische Nebel-
mensch gerade in seiner Kunst haben will, was seinem
Leben fehlt. Auch die deutsche Novelle kann darum nie
bis zu dem Grade fast abstrakter Stilisierting gehen, die
der italienischen ansteht, fondern muß — Kleist hat es
als erster versucht — jedem Handlungsmoment ein
Höchstmaß an Farbe und Bildlichkeit zu gebcn suchen,
gerade weil sie echt episch auf breite Schilderung, auf
Rede und Widerrede ganz verzichtet; sie muß es heute
mehr tun als je, weil das Leben des Menschen so viel
innerlicher geworden ist, als in den unproblematischen
Aeiten des Boccacc und schon in der Wirklichkeit weit
fcltener in farbigen Handlungen verläuft, als früher.
* H
-r-
Goethe muß den Mangel erkannt haben — in dcr
klcinen Novelle von den „wunderlichen Nachbarskindern"
mit ihrer eigentümlichen, fast schematisch-abstrakten Art
hat er sich gleichsam noch einmal act absnicinirr geführt
denn von der Form, die ihre Ereignisse ani strengsten
dcr Logik unterwirft, geht er plötzlich zu der, die sie am
willkürlichsten ancinanderreiht, einzig dem Befehle
gaukelnder Phantasie gehorsam: Es ist ein Märchen,
mit dem die „Unterhaltungen" schließen. Die Haupt-
personen sind eine grüne Schlange, ein Riese, dessen
Schatten eine gangbare Brücke ist, drei Könige in einer
Höhle, ein Mann mit einer Wunderlaterne, samt Weib,
cin Prinz und eine schöne Frau; eine wahrhaft königlich
reiche, keinen Augenblick versagende Phantasie hat solche
und andere Wesen mit so verblüffender Glaubwürdig-
keit in eine Handlung verwoben, daß man ihr gespannter
folgt als einem Kriminalroman, in jeder Einzelheit so
tiefsinnig, daß man nach ihrer symbolischen Bedeutung
suchen möchte, so schön dabei gerade in ihrem Ober-
flächenreiz, daß man sich scheut, den zu zerstören. Dieses
Märchen führt dann zu den „Wanderjahren" hinüber,
denn auch dort ist die „neue Melusine" ein Märchen,
minder bedeutend wohl, von geringereni spezifischem
Geivichte, aber von einer graziösen Leichtigkeit, wie
kaum etwas andereS in Goethes Werk. Jn der Szene
mit dem leicht novellistischen Einschlag, wo die Iwergin,
cben wieder in menschlicher Gestalt, vom Geliebten
beleidigtdieWorte spricht:„Hieristvielverschüttet",hatsie
cine deutliche Familienähnlichkeit mit der Novelle von
der „wandernden Tbrin", die Goethe gleichzeitig aus dem
Französischen übertrug, ebenso glanzend geschrieben
und ebenfalls insofern märchenhaft, als die Heldin als
„Törin" bezeichnet und mit dem Liebesproblem nur
gespielt wird. Einen ähnlichen Charakter zwischen der
cine problematische Situation aufbauenden und durch
eine Katastrophe lösenden Novelle und phantastischer
Spielerei haben weiterhin St. Joseph II. und ganz
zuletzt die „Novelle": Jn der ersten wird zwar eine
komplizierte Situation verbreitet, aber das Schicksal
beeilt sich, den störenden Gatten zu beseitigen, damit
geschehen kann, worauf es angelegt ist: Jn legendärer
Weise soll eine Familie bis ins kleinste das Bild der
heiligen Familie erneuern; die „Novelle", realistisch-
novellistisch beginnend, endet mit der Aähmung eines
Löwen durch ein Kind. Vielleicht von dieser Novelle
als einem ganz späten Alterswerke abgesehen, hat Goethe
in diesen gan-z märchenhaften oder doch nicht ent-
schieden realistischen Geschichten das Größte, Bleibendes
erreicht; St. Joseph bereitet in dem in epischem Flusse
geschriebenen Bericht des Aimmermanns, in dem fie
gipfelt, schon auf den bürgerlich-warmen Ton späterer
Stifterscher und Gottfried Kellerscher Erzählungsweise
vor, die alles Jtalienifche überwunden hat.
-r- -r-
-r-
Als derDichter cndlich doch auch seelisch-kompliziertere
Themen als Novellen behandeln wollte, ohne dabei, wie
im „Ferdinand", in die italienische Erzählungsweise zu
versallen, wußte er freilich, unfähig zu einer Konzentra-
tion, wie sie Kleist als prophetifcher Vorläufer unserer
Tage eben in fieberhaften Anlauf erzwungen hatte,
keinen anderen Ausweg, als daß er, wie spielerisch bereits
iii der „Melusine" und der „Törin", ernsthaft, nach Art
der Romane, im einleitenden Teile von St. Joseph,
das naturalistische Gespräch in seine im übrigen noch
niöglichst schnell durchgeführte Handlungen einfügte.
„Die gefährliche Wette" ist nicht mehr als eine un-
bedeutende Anekdote, „Nicht zu weit" ein kleines Frag-
ment, „das nußbraune Mädchen mit seinem schönen
Anfange leider schließlich in eine Tagebucherzahlung
aufgelöst: So können nur „Wo steckt der Verräter?"
und der „Mann von 50 Jahren" als Typus von Goethes
späterer Novelle gelten; doch scheidet die erste dabei
ebenfalls noch aus, weil sie auf dem echt rokokohaften,
heute nicht mehr recht wirksamen Motiv beruht, daß
die Monologe eines unglücklichen Liebhabers belauscht
werden. — Als frühstes Beispiel der deutschen No-
velle ini neunzehnten Jahrhundert ist „der Mann von
50 Jahren" im Grunde ja gerade das, was wir mit strenger
gewordenem Formgefühl heute wieder bekämpfen, ein
Gemisch aus breiten, überbreiten Gesprächen, aus Schil-
derungen, Referaten und wenigen wirklich erzählerischen
Partieen — in „Wo steht der Verräter?" werden wie
im Drama vor Einzelreden bereits die Namen der
sprechenden Person gesetzt —. Außerdem ist diese Novelle
zum größeren Teile in Goethes schwerfälligster Alters-
sprache geschrieben, wo die Neigung zur Erschöpfung
des Ausdrucks pedantisch und schnörkelhaft geworden ist,
die Episode die Haupthandlung verdrängt, und die
Häufung von „aber" und „jedoch" nicht zur erstrebten
Ausammenziehung, sondern ganz im Gegenteil zur
Trennung der Teile führt. Trotzdem hat sich diese erste
Ausammendrängung spezifisch moderner Liebeskämpfe
noch immer eine eindringliche Wirkung bewahrt, zuni
mindesten in der schönen Szene auf dem Eise, wo der
Vater seine Braut im traulichen Ausammensein mit dem
Sohne überrascht: Solcher Brennpunkte des Gefühls,
die innere Situation restlos in die außere Situation
übertragender Szenen gibt es auf dem Höhenpunkte fast
jeder Novelle Goethes: wo St. Joseph die schwangere
Frau auf seinen Esel hebt; wo das nußbraune Mädchen
am Totenbett des Vaters von dem Bewerber an der
Novelle zu sklavisch folgte. Der Grund, weshalb sie nicht
urwüchsig deutsch, vielmehr gleichsam in ein Form-
korsett gepreßt scheint, ist wohl der, daß echt deutsche
Form eben immer minder glatt und elegant, dafür
aber auch saftiger, kräftiger, farbenglühender ist als ro-
manische: möglicherweise, weil der nordische Nebel-
mensch gerade in seiner Kunst haben will, was seinem
Leben fehlt. Auch die deutsche Novelle kann darum nie
bis zu dem Grade fast abstrakter Stilisierting gehen, die
der italienischen ansteht, fondern muß — Kleist hat es
als erster versucht — jedem Handlungsmoment ein
Höchstmaß an Farbe und Bildlichkeit zu gebcn suchen,
gerade weil sie echt episch auf breite Schilderung, auf
Rede und Widerrede ganz verzichtet; sie muß es heute
mehr tun als je, weil das Leben des Menschen so viel
innerlicher geworden ist, als in den unproblematischen
Aeiten des Boccacc und schon in der Wirklichkeit weit
fcltener in farbigen Handlungen verläuft, als früher.
* H
-r-
Goethe muß den Mangel erkannt haben — in dcr
klcinen Novelle von den „wunderlichen Nachbarskindern"
mit ihrer eigentümlichen, fast schematisch-abstrakten Art
hat er sich gleichsam noch einmal act absnicinirr geführt
denn von der Form, die ihre Ereignisse ani strengsten
dcr Logik unterwirft, geht er plötzlich zu der, die sie am
willkürlichsten ancinanderreiht, einzig dem Befehle
gaukelnder Phantasie gehorsam: Es ist ein Märchen,
mit dem die „Unterhaltungen" schließen. Die Haupt-
personen sind eine grüne Schlange, ein Riese, dessen
Schatten eine gangbare Brücke ist, drei Könige in einer
Höhle, ein Mann mit einer Wunderlaterne, samt Weib,
cin Prinz und eine schöne Frau; eine wahrhaft königlich
reiche, keinen Augenblick versagende Phantasie hat solche
und andere Wesen mit so verblüffender Glaubwürdig-
keit in eine Handlung verwoben, daß man ihr gespannter
folgt als einem Kriminalroman, in jeder Einzelheit so
tiefsinnig, daß man nach ihrer symbolischen Bedeutung
suchen möchte, so schön dabei gerade in ihrem Ober-
flächenreiz, daß man sich scheut, den zu zerstören. Dieses
Märchen führt dann zu den „Wanderjahren" hinüber,
denn auch dort ist die „neue Melusine" ein Märchen,
minder bedeutend wohl, von geringereni spezifischem
Geivichte, aber von einer graziösen Leichtigkeit, wie
kaum etwas andereS in Goethes Werk. Jn der Szene
mit dem leicht novellistischen Einschlag, wo die Iwergin,
cben wieder in menschlicher Gestalt, vom Geliebten
beleidigtdieWorte spricht:„Hieristvielverschüttet",hatsie
cine deutliche Familienähnlichkeit mit der Novelle von
der „wandernden Tbrin", die Goethe gleichzeitig aus dem
Französischen übertrug, ebenso glanzend geschrieben
und ebenfalls insofern märchenhaft, als die Heldin als
„Törin" bezeichnet und mit dem Liebesproblem nur
gespielt wird. Einen ähnlichen Charakter zwischen der
cine problematische Situation aufbauenden und durch
eine Katastrophe lösenden Novelle und phantastischer
Spielerei haben weiterhin St. Joseph II. und ganz
zuletzt die „Novelle": Jn der ersten wird zwar eine
komplizierte Situation verbreitet, aber das Schicksal
beeilt sich, den störenden Gatten zu beseitigen, damit
geschehen kann, worauf es angelegt ist: Jn legendärer
Weise soll eine Familie bis ins kleinste das Bild der
heiligen Familie erneuern; die „Novelle", realistisch-
novellistisch beginnend, endet mit der Aähmung eines
Löwen durch ein Kind. Vielleicht von dieser Novelle
als einem ganz späten Alterswerke abgesehen, hat Goethe
in diesen gan-z märchenhaften oder doch nicht ent-
schieden realistischen Geschichten das Größte, Bleibendes
erreicht; St. Joseph bereitet in dem in epischem Flusse
geschriebenen Bericht des Aimmermanns, in dem fie
gipfelt, schon auf den bürgerlich-warmen Ton späterer
Stifterscher und Gottfried Kellerscher Erzählungsweise
vor, die alles Jtalienifche überwunden hat.
-r- -r-
-r-
Als derDichter cndlich doch auch seelisch-kompliziertere
Themen als Novellen behandeln wollte, ohne dabei, wie
im „Ferdinand", in die italienische Erzählungsweise zu
versallen, wußte er freilich, unfähig zu einer Konzentra-
tion, wie sie Kleist als prophetifcher Vorläufer unserer
Tage eben in fieberhaften Anlauf erzwungen hatte,
keinen anderen Ausweg, als daß er, wie spielerisch bereits
iii der „Melusine" und der „Törin", ernsthaft, nach Art
der Romane, im einleitenden Teile von St. Joseph,
das naturalistische Gespräch in seine im übrigen noch
niöglichst schnell durchgeführte Handlungen einfügte.
„Die gefährliche Wette" ist nicht mehr als eine un-
bedeutende Anekdote, „Nicht zu weit" ein kleines Frag-
ment, „das nußbraune Mädchen mit seinem schönen
Anfange leider schließlich in eine Tagebucherzahlung
aufgelöst: So können nur „Wo steckt der Verräter?"
und der „Mann von 50 Jahren" als Typus von Goethes
späterer Novelle gelten; doch scheidet die erste dabei
ebenfalls noch aus, weil sie auf dem echt rokokohaften,
heute nicht mehr recht wirksamen Motiv beruht, daß
die Monologe eines unglücklichen Liebhabers belauscht
werden. — Als frühstes Beispiel der deutschen No-
velle ini neunzehnten Jahrhundert ist „der Mann von
50 Jahren" im Grunde ja gerade das, was wir mit strenger
gewordenem Formgefühl heute wieder bekämpfen, ein
Gemisch aus breiten, überbreiten Gesprächen, aus Schil-
derungen, Referaten und wenigen wirklich erzählerischen
Partieen — in „Wo steht der Verräter?" werden wie
im Drama vor Einzelreden bereits die Namen der
sprechenden Person gesetzt —. Außerdem ist diese Novelle
zum größeren Teile in Goethes schwerfälligster Alters-
sprache geschrieben, wo die Neigung zur Erschöpfung
des Ausdrucks pedantisch und schnörkelhaft geworden ist,
die Episode die Haupthandlung verdrängt, und die
Häufung von „aber" und „jedoch" nicht zur erstrebten
Ausammenziehung, sondern ganz im Gegenteil zur
Trennung der Teile führt. Trotzdem hat sich diese erste
Ausammendrängung spezifisch moderner Liebeskämpfe
noch immer eine eindringliche Wirkung bewahrt, zuni
mindesten in der schönen Szene auf dem Eise, wo der
Vater seine Braut im traulichen Ausammensein mit dem
Sohne überrascht: Solcher Brennpunkte des Gefühls,
die innere Situation restlos in die außere Situation
übertragender Szenen gibt es auf dem Höhenpunkte fast
jeder Novelle Goethes: wo St. Joseph die schwangere
Frau auf seinen Esel hebt; wo das nußbraune Mädchen
am Totenbett des Vaters von dem Bewerber an der