rnft Lissauer
hat einen neuen Band Gedichte „Der Strom" herausgebrackt
(Derlag Cugen Diederichs), der neben dem „Held Namenlos" von
Alfons Paquet im gleichen Verlag weitaus das Bedeutendste
darstellh was mir von der jüngeren Lyrik in Deutschland vor-
gekommen ist. Schon sein erstes Gedichtbuch „Der Acker" brachte
ihm einen ungewöhnlichen Achtungserfolg; die strenge Bindnng
seiner lyrischen Gebilde nnd der spröde aber reingestimmte Klang
seiner Worte zeigten einen Sprachbildner an der Arbeit, dem der
lyrische Crguß wenig, die Form viel oder alles galt. Nur konnte
man im Zweifel sein, ob sich hier ein Temperaiuent bändigte,
oder ein formender Künstler die Sprachmittel streng aber auch
mühsam erarbeitete.
Nun bringt sein neuer Band die Überraschung eines unge-
wöhnlichen Temperamentes, das erst mit den streng crworbenen
Kunstfähigkeiten lebendig geworden, und mehr in seinen
lyrischen Gebilden als in dem Dichter selbst zu stecken scheint.
Natürlicb ist das eine nicht ohne das andere möglich; es soll da-
mit drastisch auf den grundsätzlichen Unterschied Lissauers von den
landläufigen Temperamenten hingewiesen werden, die — seit-
dem ihnen namentlich Richard Dehmel die Zunge gelöst hat —
mit der impulsiven Entfaltung oder Entleerung ihrer Gedanken
nnd Gefühle schon etwas Nennenswertes für die Dichtkunst zn tun
glaubten und nicht bemerkten, daß in der Kunst die HLchsten und
leidenschaftlichsten menschlichen Dinge zunächst nur Material sind,
mit dem gut und schlecht gewirtschaftet werden kann. Anderseits
ist aber Lrssauer durchaus nicht den Formtalenten in der Nachfolge
Stefan Georges beizurechnen, die nur ans den Worten heraus
dichten und vor lauter Klang und Symbol den natürlichen Iu-
sammenhang vergessen, aus dem ein Ders allein zum wirklichen
Sinnbild der Welt werden kann.
Sehen wir genauer zu, so hat sich unsere Lyrik in den ernst-
hafteren Versuchen seit Jahren um diese beiden Pole epigonisch
gesammelt. Den einzigen grundsätzlichen Versuch, sich lyrifch
zwischen beiden auf eigene Füße zu stellen, machte Alfons Paquet
mit seinem Zeit- und Reisebuch „Auf Erden" und seiner Nachfolge
dem „Held Namenlos". Wenn ich sage, daß sich nun Lissauer neben
ibn stellt, ist damit keinerlei Nachfolge, nicht einmal Verwandtschaft,
vielmehr grundsätzliche Gegnerschaft gemeint. Paquets herrisch
hinrauschende Rhythmen waren zumeist mehr pathetische, sogar
rhetorische Crgüsse als lyrische Gebilde; indem sie die Lyrik aus
der einsam fühlenden Seele gewaltsam in den Schaukasten der
Augen brachten, gaben sie mehr oder weniger auch nur neues
Material: sie stellten nach der brandigen Entzündung persLnlicher
Leidenschaften das Programm einer ins All gestellten Seele auf;
ihre künstlerische Kraft und Wirkung war neben dem Pathos dieser
neueingestellten Seele in der großartigen Kraft und Anschauung
der einzelnen Bilder und Worte begründet. Jn solcher program-
matischen Absicht und Schärfe steht Lissauer hinter Paquet
zurück: er übertrifft ihn durchaus in der künstlerischen Bindnng
seiner SchLpfungen, die garnicht mehr Material sondern lyrische
Gebilde von innerem Wuchs und innerer Ausgleichung — soll
heißen Harmonie — sind. Cr wirkt dadurch nicht so modern wie
Paquet, führt aber die Lyrik wieder auf ihren gegebenen Boden
zurück: er tut das, wie man vielfach erkennt, in herzlicher Würdigung
des Paquetschen Vorbildes, aber aus eigener Machtvollkommenheit
seiner dichterischen Natur, kontrolliert durch einen abwägenden
Kunstverstand. Er gibt sich nicht, wie jener, dem Rausch seiner
Anschauungen hin, sondern nimmt sie als Material für seine künst-
lerische Arbeit. Mehr als irgend einer unter den Jüngsten —.
soweit ich sie kenne — ist er Künstler und er ist dies nicht in der
Art eines Wort- oder Formspielers, sondern als Dichter auf dcm
lebendigen Boden einer reichen klangvollen Natur.
Wenn er im Klang seiner Verse unwillkürlich die Erinnerung
an C. F. Meyer wachruft, ist auch damit keine epigonische Ein-
schränkung gegebcn: es ist die gleiche Dorliebc für den vollen
Vokal und die Schlagkraft der Bilder, sowie die sorgfältige Aus-
sparung aller FlickwLrter. So behandelt zeigt die deutsche Sprache
erst ihre Fülle und einen Wohlklang, der alle landläufigen Klagen
über ihre Härten und die vielen Iischlaute als Unfähigkeit der
Spieler, nicht als Mangel des Jnstrumentes erweist. Freilich
insofern ist Lissauer schon vom Schlag des Kilchbergers, als in seinen
Versen die persönliche Einstellung zugunsten eines in den Reichtum
der Bildung getauchten Weltgefühls zurücktritt: Er kommt, wie
ener als Repräsentant, nicht als Cinzelperson. Und gerade das
begründet die Uberlegenheit seiner Kunst, daß er von der zufälligen
PsrsLnlichkeit des Dichters zum Naturgeseh der Dichtung dringt.
Seine Lyrik wird wieder Mörike: „Was aber schön ist, selig
scheint es in ihm selbst". Uns ist seit anderthalb Jahrzehnten
so viel von der dichterischen Persönlichkeit vorgeredet worden, daß
wir den „Iweck" der Dichtung kaum noch wissen; eine Stimmung,
ein Gcfühl, einen Gedanken, eine Auschauung in Worten wieder-
zugeben, ist tatsächlich kein so großes Kunststück und sicher noch
längst keine Dichtung, auch wenn es von der temperamentvollsten
PersLnlichkeit geschieht: Die Kunst fängt erst an, wenn aus diesen
Sachen selbständige Lebewesen der Sprache entstehen, wie sie
eben MLrike reiner als jeder andere schuf. Lissauer ist persön-
lich von anderer Art als der Schwabenpfarrer und ganz ein
Sohn der modernen Zeit; aber seine Kunst zielt anf die selbe
Reinheit der lyrischen Vollendung.
Hiermit wäre die Einstellung Lissauers in die „zeitgenössische
Dichtung" angedeutet, soweit das der Rahmen einer kurzen Be-
sprechung zuläßt. Der Iweck dieser Ieilen aber ist die herzliche
Begrüßung eines Dichters, den man nach diesem Buch unter den
Führenden mitzählen muß, und die dringende Cmpfehlung seines
neuen Buches, das die überaus sorgfältige und schöne Äufmachung,
die ihm der Verlag zuteil werden ließ, wirklich verdient. Der Deut-
sche hat bei der Ueberflutung mit lyrischer Produktion eine begründete
Äbneigung gegen lyrische Bücher; man darf ihm zugeben, daß er
selten eine durchschlagende Veranlassung hat, sich ihrer zu ent-
äußern, hier ist eine solche Gelegenheit: keine in Worten sich sprei-
zende Großmannssucht, kein epigonisches Gesäusel, keine gefühls-
arme Wortspielerei, fondern eine männliche, klar gebildete und
anf reinem Gefühl ruhende Kunst. Auch wer sonst keine Lyrik
liest, diesen „Strom" sollte er in die Hand nehmen; er ist eins
von den seltenen Büchern jenseits der Literatur, die eine Ange-
legenheit des Volkes sind. W. Schäfer.
ovellen.
Paul Crnst hat ein neues Buch herausgegeben, das den
Titel „Der Tod des Cosimo"^ trägt; es enthält kleine erzählerische
Stücke, aber der Dicbter nennt sie nicht mehr, wie einst diejenigen
der „Prinzessin des Ostens", Novellen. Jn Wahrheit sind es aucb
keine Novellen, wenngleich die meisten von ihnen den schnellen
Verlauf, die klare Führung haben, die die Novellen auszeichnen;
und ist es überhaupt noch Dichtung, was das Buch enthält? Paul
Ernsts Dichtung ist hier doch wohl ganz und gar zu jenem Spiel
mit der Antithese gewvrden, als das sich das Wesen der Philosophie
darstellt; ohne viel sinnlichen Flitter, kaum geschminkte Masken,
stellt der ethisch bemühte Dichter jetzt immer offener einfach die
gegensätzlichen Typen der Menschheit gegeneinander, meistens mit
deutlicher moralischer Stellungnahme — der Innenmensch, der
Sinnenmensch; der Sklavenmensch, der Herrenmensch; der scbam-
volle Mensch, der schamlose Mensch — zuweilen ohne moraliscbe
Stellungnahme — der Christ, der Heide; der MLnch, der Tyrann,
der Unschuldige. Cr läßt sie ein paar Bewegungen machen, ihre
Grundansichten wie Rollen heruntersagen, worauf er sie weg-
wirft, um das Spiel mit anderen zu beginnen: Es ist das souveräne
aber unpoetische Spiel eines, der sich nicht mehr aus seinem Denken
herausfinden kann; dem die Erde, die er niemals besonders farbig
sah, nunmehr wirklicb völlig aus dem Auge zu schwinden droht
und damit natürlich alle MLglichkeit zur Poesie, die einzig aus der
Liebe zum Leben und zum Menschen hervorgeht: Die unheimlicb
geistreiche, freilich auch vollkommen vergrübelte Geschichte, die
schlechtweg „Der Dichter und die Schauspielerin" genannt ist, ent-
wirft das Bild eines Menschcn, der dem Leben wirklich unmenschlick,
und starr wie ein Begriff gegenübersteht. Merkwürdig ist dabei,
wie der gleichsam im Denken Ertrinkende wieder ans Ufer zn
kommen sucht: Aller Formtheorie von früher entgegen baut er, um
nur der strengen, ebenfalls also vom Denken erzeugten Form zu
entgehen, Gebilde skizzenhafter Art und schreitet zu einem geradezu
derben Naturalismus zurück, so im „Tod des Dichters", in dcr
„Liebe des FlibustierkLnigs"; aber auch so entkommt er der Ge-
bundenheit seines Wesens nicht, denn Paul Ernst ist'eben kein
reiner Dichter, sondern ein Begriffsdichter und Moralist, ein Nach-
folger der alten Fabeldichter.
UngewLhnlicb formenstreng zum mindesten in ihrer Absicht
sind dagegen die Novellen, die Rudolf G. Binding im Jnselverlag
* Meyer L Jessen, Berlin 1912.
214
hat einen neuen Band Gedichte „Der Strom" herausgebrackt
(Derlag Cugen Diederichs), der neben dem „Held Namenlos" von
Alfons Paquet im gleichen Verlag weitaus das Bedeutendste
darstellh was mir von der jüngeren Lyrik in Deutschland vor-
gekommen ist. Schon sein erstes Gedichtbuch „Der Acker" brachte
ihm einen ungewöhnlichen Achtungserfolg; die strenge Bindnng
seiner lyrischen Gebilde nnd der spröde aber reingestimmte Klang
seiner Worte zeigten einen Sprachbildner an der Arbeit, dem der
lyrische Crguß wenig, die Form viel oder alles galt. Nur konnte
man im Zweifel sein, ob sich hier ein Temperaiuent bändigte,
oder ein formender Künstler die Sprachmittel streng aber auch
mühsam erarbeitete.
Nun bringt sein neuer Band die Überraschung eines unge-
wöhnlichen Temperamentes, das erst mit den streng crworbenen
Kunstfähigkeiten lebendig geworden, und mehr in seinen
lyrischen Gebilden als in dem Dichter selbst zu stecken scheint.
Natürlicb ist das eine nicht ohne das andere möglich; es soll da-
mit drastisch auf den grundsätzlichen Unterschied Lissauers von den
landläufigen Temperamenten hingewiesen werden, die — seit-
dem ihnen namentlich Richard Dehmel die Zunge gelöst hat —
mit der impulsiven Entfaltung oder Entleerung ihrer Gedanken
nnd Gefühle schon etwas Nennenswertes für die Dichtkunst zn tun
glaubten und nicht bemerkten, daß in der Kunst die HLchsten und
leidenschaftlichsten menschlichen Dinge zunächst nur Material sind,
mit dem gut und schlecht gewirtschaftet werden kann. Anderseits
ist aber Lrssauer durchaus nicht den Formtalenten in der Nachfolge
Stefan Georges beizurechnen, die nur ans den Worten heraus
dichten und vor lauter Klang und Symbol den natürlichen Iu-
sammenhang vergessen, aus dem ein Ders allein zum wirklichen
Sinnbild der Welt werden kann.
Sehen wir genauer zu, so hat sich unsere Lyrik in den ernst-
hafteren Versuchen seit Jahren um diese beiden Pole epigonisch
gesammelt. Den einzigen grundsätzlichen Versuch, sich lyrifch
zwischen beiden auf eigene Füße zu stellen, machte Alfons Paquet
mit seinem Zeit- und Reisebuch „Auf Erden" und seiner Nachfolge
dem „Held Namenlos". Wenn ich sage, daß sich nun Lissauer neben
ibn stellt, ist damit keinerlei Nachfolge, nicht einmal Verwandtschaft,
vielmehr grundsätzliche Gegnerschaft gemeint. Paquets herrisch
hinrauschende Rhythmen waren zumeist mehr pathetische, sogar
rhetorische Crgüsse als lyrische Gebilde; indem sie die Lyrik aus
der einsam fühlenden Seele gewaltsam in den Schaukasten der
Augen brachten, gaben sie mehr oder weniger auch nur neues
Material: sie stellten nach der brandigen Entzündung persLnlicher
Leidenschaften das Programm einer ins All gestellten Seele auf;
ihre künstlerische Kraft und Wirkung war neben dem Pathos dieser
neueingestellten Seele in der großartigen Kraft und Anschauung
der einzelnen Bilder und Worte begründet. Jn solcher program-
matischen Absicht und Schärfe steht Lissauer hinter Paquet
zurück: er übertrifft ihn durchaus in der künstlerischen Bindnng
seiner SchLpfungen, die garnicht mehr Material sondern lyrische
Gebilde von innerem Wuchs und innerer Ausgleichung — soll
heißen Harmonie — sind. Cr wirkt dadurch nicht so modern wie
Paquet, führt aber die Lyrik wieder auf ihren gegebenen Boden
zurück: er tut das, wie man vielfach erkennt, in herzlicher Würdigung
des Paquetschen Vorbildes, aber aus eigener Machtvollkommenheit
seiner dichterischen Natur, kontrolliert durch einen abwägenden
Kunstverstand. Er gibt sich nicht, wie jener, dem Rausch seiner
Anschauungen hin, sondern nimmt sie als Material für seine künst-
lerische Arbeit. Mehr als irgend einer unter den Jüngsten —.
soweit ich sie kenne — ist er Künstler und er ist dies nicht in der
Art eines Wort- oder Formspielers, sondern als Dichter auf dcm
lebendigen Boden einer reichen klangvollen Natur.
Wenn er im Klang seiner Verse unwillkürlich die Erinnerung
an C. F. Meyer wachruft, ist auch damit keine epigonische Ein-
schränkung gegebcn: es ist die gleiche Dorliebc für den vollen
Vokal und die Schlagkraft der Bilder, sowie die sorgfältige Aus-
sparung aller FlickwLrter. So behandelt zeigt die deutsche Sprache
erst ihre Fülle und einen Wohlklang, der alle landläufigen Klagen
über ihre Härten und die vielen Iischlaute als Unfähigkeit der
Spieler, nicht als Mangel des Jnstrumentes erweist. Freilich
insofern ist Lissauer schon vom Schlag des Kilchbergers, als in seinen
Versen die persönliche Einstellung zugunsten eines in den Reichtum
der Bildung getauchten Weltgefühls zurücktritt: Er kommt, wie
ener als Repräsentant, nicht als Cinzelperson. Und gerade das
begründet die Uberlegenheit seiner Kunst, daß er von der zufälligen
PsrsLnlichkeit des Dichters zum Naturgeseh der Dichtung dringt.
Seine Lyrik wird wieder Mörike: „Was aber schön ist, selig
scheint es in ihm selbst". Uns ist seit anderthalb Jahrzehnten
so viel von der dichterischen Persönlichkeit vorgeredet worden, daß
wir den „Iweck" der Dichtung kaum noch wissen; eine Stimmung,
ein Gcfühl, einen Gedanken, eine Auschauung in Worten wieder-
zugeben, ist tatsächlich kein so großes Kunststück und sicher noch
längst keine Dichtung, auch wenn es von der temperamentvollsten
PersLnlichkeit geschieht: Die Kunst fängt erst an, wenn aus diesen
Sachen selbständige Lebewesen der Sprache entstehen, wie sie
eben MLrike reiner als jeder andere schuf. Lissauer ist persön-
lich von anderer Art als der Schwabenpfarrer und ganz ein
Sohn der modernen Zeit; aber seine Kunst zielt anf die selbe
Reinheit der lyrischen Vollendung.
Hiermit wäre die Einstellung Lissauers in die „zeitgenössische
Dichtung" angedeutet, soweit das der Rahmen einer kurzen Be-
sprechung zuläßt. Der Iweck dieser Ieilen aber ist die herzliche
Begrüßung eines Dichters, den man nach diesem Buch unter den
Führenden mitzählen muß, und die dringende Cmpfehlung seines
neuen Buches, das die überaus sorgfältige und schöne Äufmachung,
die ihm der Verlag zuteil werden ließ, wirklich verdient. Der Deut-
sche hat bei der Ueberflutung mit lyrischer Produktion eine begründete
Äbneigung gegen lyrische Bücher; man darf ihm zugeben, daß er
selten eine durchschlagende Veranlassung hat, sich ihrer zu ent-
äußern, hier ist eine solche Gelegenheit: keine in Worten sich sprei-
zende Großmannssucht, kein epigonisches Gesäusel, keine gefühls-
arme Wortspielerei, fondern eine männliche, klar gebildete und
anf reinem Gefühl ruhende Kunst. Auch wer sonst keine Lyrik
liest, diesen „Strom" sollte er in die Hand nehmen; er ist eins
von den seltenen Büchern jenseits der Literatur, die eine Ange-
legenheit des Volkes sind. W. Schäfer.
ovellen.
Paul Crnst hat ein neues Buch herausgegeben, das den
Titel „Der Tod des Cosimo"^ trägt; es enthält kleine erzählerische
Stücke, aber der Dicbter nennt sie nicht mehr, wie einst diejenigen
der „Prinzessin des Ostens", Novellen. Jn Wahrheit sind es aucb
keine Novellen, wenngleich die meisten von ihnen den schnellen
Verlauf, die klare Führung haben, die die Novellen auszeichnen;
und ist es überhaupt noch Dichtung, was das Buch enthält? Paul
Ernsts Dichtung ist hier doch wohl ganz und gar zu jenem Spiel
mit der Antithese gewvrden, als das sich das Wesen der Philosophie
darstellt; ohne viel sinnlichen Flitter, kaum geschminkte Masken,
stellt der ethisch bemühte Dichter jetzt immer offener einfach die
gegensätzlichen Typen der Menschheit gegeneinander, meistens mit
deutlicher moralischer Stellungnahme — der Innenmensch, der
Sinnenmensch; der Sklavenmensch, der Herrenmensch; der scbam-
volle Mensch, der schamlose Mensch — zuweilen ohne moraliscbe
Stellungnahme — der Christ, der Heide; der MLnch, der Tyrann,
der Unschuldige. Cr läßt sie ein paar Bewegungen machen, ihre
Grundansichten wie Rollen heruntersagen, worauf er sie weg-
wirft, um das Spiel mit anderen zu beginnen: Es ist das souveräne
aber unpoetische Spiel eines, der sich nicht mehr aus seinem Denken
herausfinden kann; dem die Erde, die er niemals besonders farbig
sah, nunmehr wirklicb völlig aus dem Auge zu schwinden droht
und damit natürlich alle MLglichkeit zur Poesie, die einzig aus der
Liebe zum Leben und zum Menschen hervorgeht: Die unheimlicb
geistreiche, freilich auch vollkommen vergrübelte Geschichte, die
schlechtweg „Der Dichter und die Schauspielerin" genannt ist, ent-
wirft das Bild eines Menschcn, der dem Leben wirklich unmenschlick,
und starr wie ein Begriff gegenübersteht. Merkwürdig ist dabei,
wie der gleichsam im Denken Ertrinkende wieder ans Ufer zn
kommen sucht: Aller Formtheorie von früher entgegen baut er, um
nur der strengen, ebenfalls also vom Denken erzeugten Form zu
entgehen, Gebilde skizzenhafter Art und schreitet zu einem geradezu
derben Naturalismus zurück, so im „Tod des Dichters", in dcr
„Liebe des FlibustierkLnigs"; aber auch so entkommt er der Ge-
bundenheit seines Wesens nicht, denn Paul Ernst ist'eben kein
reiner Dichter, sondern ein Begriffsdichter und Moralist, ein Nach-
folger der alten Fabeldichter.
UngewLhnlicb formenstreng zum mindesten in ihrer Absicht
sind dagegen die Novellen, die Rudolf G. Binding im Jnselverlag
* Meyer L Jessen, Berlin 1912.
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