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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 9
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Schäfer, Wilhelm: Die junge und die jüngste Malerei, 2: (Glossen zur Sonderbundausstellung in Köln); Cézanne
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Grabowsky, Adolf: Der Weg der Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0346

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Die junge und die jüngste Malerei.

und Unerhörte zu wugen, wonach das Herz der Jugend
nun einmal drangt. Um ein Cszannesches Bild zu malen,
bedarf es der genialen Beherrschung des ganzen Kontra-
punktes; um in sciner Art Musik zu machen, genügt die
Befreiung von der Naturanschauung und die Entfesselung
der Phantasie, deren Resultate das lärmende Füllsal
der Kölner Ausstellung bilden. W. Schäfer.

er Weg der Form.

Der Weg der Form führt in allen Dingen von
der knechtenden unpersönlichen Form zur per-
sönlichen Form des Einzelfalles. Dies zeigt am klarsten
die Rechtsgeschichte. Jedes primitive Recht ist crfüllt
vonr strengsten Formalismus; das einzelne Rechts-
geschäst mußte, um rechtlich wirksam zu sein, bis aufs
genaueste nach den ein für allemal festgelegten Vor-
schriften erfolgen. Jm Laufe der Entivicklung schwächt
sich durchweg der Formalismccs ab und führt gar auf dem
Gebiet der persönlichsten Nechtsinteressen -— will sagen
bei den Verträgen — im Prinzip zur sogenannten Form-
losigkeit. Formlosigkeit ist aber ein schlechtes Wort, denn
ohne Form wird natürlich niemals ein Vertrag ge-
schlossen; nur überläßt man die Art der Form den Be-
teiligten. So ist lediglich vom juristischen, nicht vom
Laienstandpunkt aus, Formlosigkeit da. Jn solcher Be-
zeichnung rächt sich gleichsam der Juristenstolz für das Zc>-
geständnis, das er der Rechtsentwicklung machen mußte.
Durch die immer fester werdende Organisation des
Staates nämlich und die damit wachsende Rechtssicher-
heit — was wiederum ein verfeinertes soziales Bewußt-
sein der einzelnen zur Voraussetzung und zur Folge hat -
erübrigen sich immer mehr die harten Kautelen im
speziellen Fall. Und Uebriges wird schließlich als lästig
und unpassend empfunden.

Jndem so die Forni den Menschen im Großen bindet,
befreit sie ihn ini Kleinen. Dies aber ist zugleich die Ent-
fesselung der Persönlichkeit; denn nur die Bindung im
Kleinen, im Nahen, im ganz Persönlichen schnürt und
umzwängt das Eigenste des Menschen, während die
Bindung im Großen, die sozusagen alle Staatsbürger
mit einer riesigen Kette unifaßt, gar nicht bis zur Persön-
lichkeit vordringt, ja dieser sogar erst die zum Sichaus-
leben und Sichausstreben erforderliche Sicherheit ge-
währt. Deshalb ist auch der Anarchismus, der gerade die
Persönlichkeit zur stärksten Geltung bringen möchte, so
persönlichkeitsfeindlich. Jndem er den Staat auflöst und
kleine kommunistische Gemeinwesen schafft, sctzt er an
Stelle der vielberufenen Staatsknechtschaft die weit
schlimmere Knechtschaft im engeren Verbande.

Dieser Weg vom Formaliümus zur Form, voni Be-
drückenden zum Sichernden ist überhaupt der Weg zur
Kultur. Nicht nur Recht und Staat, die gesamte Kultur,
als Summe der geistigen und physischen Eroberungen des
Menschen, organisierte sich fester im Fortgang der Ent-
wicklung. Was sich in der Einzelentwicklung als Mechani-
sierung fundamentaler Fertigkeiten äußert, das bedeutet
in der Stammesentwicklung der selbstverständliche Besitz
an den mit der Ieit gewonnenen elementaren Errungen-
schaften. So erhält das biogenetische Grundgesetz sein

Gegenstück auf dem Gebiete der Entwicklung des Geistes.
Und genau wie beim einzelnen Menschen die höheren
individuellen Betätigungen erst entstehen auf der Grund-
lage tief verankerter primitiver Erwerbungen, so erhebt
sich auch das höhere Leben der Menschheit, eben das, was
Kultur genannt wird, erst auf rohen Bausteinen, die in
mühsamer Arbeit Jahrhunderte hindurch getürmt worden
sind. Während man aber anfangs die ungefügen Steine
ängstlich und peinlich Schicht für Schicht übereinander
legte, damit nur ja der Bau nicht zusammenstürze, gab
man den Baumeistern, die darauf nun den Palast errich-
teten, die Freiheit, aus ihrer Phantasie heraus Formen
und Ornamente zu erfinden. Das Fundament war ge-
sichert, nun durfte sich spielende Schönheit entfalten.
Oder anders gesprochen: mit der gegründeten Kultur
erwuchs aus dem Formalismus endlich die pcrsönliche
Form.

Ani besten läßt sich dieser Prozeß an der menschlichen
Tätigkeit vcrfolgen, die ausschließlich in der Formgebung
besteht: an der Kunst. Nach barbarischem Wortgepolter
zeigen die Anfänge wirklicher Dichtung eine furchtbare
Überspannung der geschlossenen Form, aus krankhafter
Angst, wieder in die alte Barbarei zu fallen. Was den
typischen Geboten an die Form nicht entsprach, galt als
Unkunst. So war der Künstler nur in sehr beschränktem
Maße sein eigener Herr, wobei freilich bedacht werden
muß, daß seine noch undifferenzierte Seele mit der Volks-
seele viel enger verbunden war als heute.

Mit der wachsenden Bestimmtheit und Fülle der
Kunstgüter wurden die elementarsten technischen Ergeb-
nisse unveräußerliches Eigentum der Kunst. Entweder sie
sind in deni angehenden Künstler als „Talent" originär
vorhanden, oder aber sie werden als Anfangsgründe der
Vetätigung, als ABC der Kunst gelehrt. Solch eiserner
Besitz an Kenntnissen verscheucht das zaghafte Beben.
Die Kunst als solche ist konsolidiert, nun hat der einzelne
Künstler das Wort. Er darf jetzt etwas wagen, ohne die
ganze Kunst in Frage zu stellen, und er wagt etwas, weil
ihm auf Grund technischer Sicherheit die Phantasie
crblüht. Die das Jndividuum zwingende Formelhaftig-
keit wird abgeworfen, aber der große Rahmen der Forni-
haftigkeit bleibt. Der Künstler kann nicht mehr in Unform
versinken und ist doch davor geschützt, den Götzen der
Form anbeten zu müssen.

Nun zeigt sich aber gerade auf dem Gebiete der Kunst,
wo die Form das eigentliche Wesen bedeutet, stärker als
auf einem anderen Kulturgebiete in der weiteren Ent-
wicklung eine Rückbildung zum Formalismus. Bald
nach Abwerfen des Formelhaften ist etwas aufgetaucht,
das die vorherige Kunst nicht gekannt hatte: der Dilettan-
tismus. Über Begriff und Wesen des Dilettantismus hat
man ja dicke Bücher geschrieben. Goethe meinte, der
Dilettant verkenne die Grenzen seiner Begabung. Dies
aber ist nur das Negative, scheidet nur gut den Dilettanten
vom „Amateur", der nichts weiter sein will als Kunst-
liebhaber, gar seinen Stolz darin sucht, und der deshalb
für die Kunst so unendlich wichtig ist. Positiv läßt sich
über den Dilettanten sagen: er schüttet formlos sein
Jnneres aus. Er steht als Mensch sehr oft weit über dem
Künstler, weil er viel reicher und intensiver fühlt, aber
er steht nicht auf dem großen Boden der gesicherten
 
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