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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 1
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Benn, Joachim: Goethes kleinere Erzählungen
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zwei Anekdoten
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Hesse, Hermann: Winterferien
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0036

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GoetheS kleinere Erzählungen.

Hand des anderen überrascht wird; die Melnsine zur
Laute greift, das Abschiedslied zu singen; Lucidor
aus der Hochzeitsgesellschaft läuft. Was in den Ge-
dichten Goethes die Seufzer oder die Jubelrufe sind,
die sich als „ach" oder „o" aus der bedrängten Brust
dcs Dichters auf seine Lippcn drängen, das sind in
den Novellen solche Szenen, und das Gefühl, das in
ihnen zum Ausdruck kommt, war zu tief und groß, war
zu faustisch, zu prometheisch, als daß sie je ganz altern
könnten. Joachim Benn.

wei Anekdoten von Goethe.

I. Das Löwenhündchen.

Ferrand und Cardano, zwei Edelleute, hatten von
Jugend auf in einem freundschaftlichen Verhältnis
gelebt. Pagen an einem Hofe, Offiziere bei einem
Regimente, hatten sie gar manches Abenteuer zusammen
bestanden und sich aus dem Grunde kennen gelernt.
Cardano hatte Glück bei den Weibern, Ferrand im
Spiel. Jener nutzte das seine mit Leichtsinn und Uber-
mut, dieser mit Bedacht und Anhaltsamkeit.

Aufällig hinterließ Cardano einer Dame in dem
Moment, als ein genaues Verhältnis abbrach, einen
kleinen schönen Löwenhund; er schasfte sich einen neuen
und schenkte diesen einer andern, eben da er sie zu meiden
gedachte; und von der Aeit an ward es Vorsatz, einer
jeden Geliebten zum Abschied ein solches Hündchen zu
hinterlassen. Ferrand wußte um diese Posse, ohne daß
er jemals besonders aufmerksam darauf gewesen wäre.

Beide Freunde wurden eine Aeitlang getrennt und
fanden sich erst wieder zusammen, als Ferrand ver-
heiratet war und auf seinen Gütern lebte. Cardano
brachte einige Aeit teils bei ihm, teils in der Nachbar-
schaft zu und war auf diese Weise über ein Jahr in einer
Gegend geblieben, in der er viele Freunde und Ver-
wandte hatte.

Einst sieht Ferrand bei seiner Frau ein allerliebstes
Löwenhündchen; er nimmt es auf, es gefällt ihm be-
sonders, er lobt, er streichelt es, und natürlich kommt
er auf die Frage, woher sie das schöne Tier erhalten
habe? „Von Cardano," war die Antwort. Auf einmal
bemächtigt sich die Erinnerung voriger Aeiten und Be-
gebenheiten, das Andenken des frechen Kennzeichens,
womit Cardano seinen Wankelmut zu begleiten pflegte,
der Sinne des beleidigten Ehemanns; er fällt in Wut,
er wirft das artige Tier unmittelbar aus seinen Lieb-
kosungen mit Gewalt gegen die Erde, verläßt das
schreiende Tier und die erschrockene Frau. Ein Awei-
kampf und mancherlei unangenehme Folgen, zwar
keine Scheidung, aber eine stille Übereinkunft, sich ab-
zusondern, und ein zerrüttetes Hauswesen machen den
Beschluß dieser Geschichte.

2. Das Windspiel.

Wir beide liebten uns und hatten uns vorgenommen,
einander zu heiraten, eher als wir die Möglichkeit eines
Etablissements voraussahen. Endlich zeigte sich eine
sichere Hoffnung; allein ich mußte noch eine Reise vor-
nehmen, die mich länger, als ich wünschte, aufzuhalten

drohte. Bei meiner Abreise ließ ich ihr mein Windspicl
zurück. Es war sonst mit mir zu ihr gekommen, mit mir
weggegangen, manchmal auch geblieben. Nun gehörte
es ihr, war ein munterer Gesellschafter und deutete
auf meine Wiederkunft. Au Hause galt das Tier statt
einer Unterhaltung; auf den Promenaden, wo wir so
oft zusammen spaziert hatten, schien das Geschöpf mich
aufzusuchen und, wenn es aus den Büschen sprang, mich
anzukündigen. So täuschte sich meine liebe Meta eine
Aeitlang mit dem Scheine meiner Gegenwart, bis end-
lich gerade zu der Aeit, da ich wiederzukommen hoffte,
meine Abwesenheit sich doppelt zu verlängern drohte,
und das arme Geschöpf nüt Tode abging.

Meiner Freundin schien ihre Wohnung leer, der
Spaziergang uninteressant, der Hund, der sonst neben
ihr lag, wenn sie an mich schrieb, war ihr, wie das Tier
in dem Bild eines Evangelisten, notwendig geworden,
die Briefe wollten nicht mehr fließen. Aufällig fand
sich ein junger Mann, der den Platz des vierfüßigen Ge-
sellschafters zu Hause und auf den Promenaden über-
nehmen wollte. Genug, man mag so billig denken, als
man will, die Sache stand gefährlich.

Ein beiderseitiger Freund, den wir als stillen Menschen-
kenner und Herzenslenker zu schätzen wußten, war
zurückgeblieben, besuchte sie manchmal und hatte die
Veränderung gemerkt. Er beobachtete das gute Kind im
stillen und kam eines Tages mit einem Windspiel ins
Aimmer, das dem ersten völlig glich. Die artige und
herzliche Anrede, womit der Freund sein Geschenk be-
gleitete, die unerwartete Erscheinung eines aus dem
Grabe gleichsam auferstandenen Günstlings, der stille
Vorwurf, den sich ihr empfängliches Herz bei diesem
Anblick machte, führten mein Bild auf einmal wieder
lebhaf heran; der junge menschliche Stellvertreter
wurde auf eine gute Weise entfernt, und der neue Günst-
ling blieb ein steter Begleiter. Als ich nach meiner Wider-
kunst meine Geliebte wieder in meine Arme schloß,
hielt ich das Geschöpf noch für das alte und verwunderte
mich nicht wenig, als es mich wie einen Fremden heftig
anbellte. „Die modernen Hunde müssen kein so gutes
Gedächtnis haben, als die antiken" rief ich aus; „Ulyß
wurde nach so langen Jahren von dem seinigen wieder-
erkannt, und dieser hier konnte mich in so kurzer Aeit
vergessen lernen." „Und doch hat er deine Penelope
auf eine sonderbare Weise bewacht!" versetzte sie, indem
sie mir versprach, das Rätsel aufzulösen. Das geschah
auch bald; denn ein heiteres Vertrauen hat von jeher
das Glück unserer Verbindung gemacht.

(Aus den „Lustigen Weibern".)

interferien.

Von Hermann Hesse.

So oft ich schon in den Bergen war, so habe ich doch
bis heute nur fünfmal einen Steinadler gesehen. Das
erste Mal, da war ich noch beinahe ein Knabe, und als
ich hoch in silbernen Lüften den sicheren, schönen Bogen-
flug des großen Vogels wahrnahm und als man mir
sagte, das sei ein Adler, da schlug mir das Herz und ich
sah in dem königlich Schwebenden ein Lied und ein Sinn-
bild, folgte ihm mit dürstendem Blick und behielt ihn
 
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