Winterferien
für immer im Gedächtnis. Seither besuchte ich die Berge
nie ohne eine stille Hoffnung, ihn etwa wiederzusehen,
und hundertmal schaute ich auf Höhenwegen mit oft
enttauschten Augen nach ihm aus. Selten hat die Hoff-
nung sich erfüllt und so blieb sie unvermindert in mir
lebendig. Es gibt Dinge und Wünsche, an die ich alle
aufatmende Lebensüist und die Vorstellung der innigsten
Erdenlust knüpfe; zu diesen gehören vielleicht vor allen
andern die drei: eine sternklare Winternacht im Hoch-
gebirge, eine abendliche Barkenfahrt zu Füßen irgend
einer italienischen Küstenstadt, und dann das Erspahen
eines Adlers über den Bergen. So oft Enttäuschung
und Sorge mich müde machen, so oft ein leerer und
unschöner Tag mich verdrießt und lähmt, flüchte ich zu
diesen Bildern, und wenn sie auch zumeist nur Wünsche
sind und unerfüllbar bleiben, so hat doch mein Verlangen
darin ein schönes und festes Aiel gefunden, und das ist
schon halbe Genesung.
Diesen Winter war ich eine Woche in Aürich drüben,
um die lange stille Aeit zu unterbrechen und einmal wieder
Kultur zu atmen, Menschen zu sehen und mich als Aeit-
genossen zu fühlen. Es waren schöne, wohl ausgefüllte
Tage; ich sah alte und neue Bilder, hörte Beethoven,
Mozart und Hugo Wolff, verkehrte mit befreundeten
Malern, Dichtern, Redakteuren, Geschäftsleuten, sah
bevölkerte Straßen, rasche Wagen und schön gekleidete
Frauen, trank nachts meinen Wein bei lebhaften Ge-
sprächen. Jch genoß das Vergnügen, in guten Läden
gut bedient zu werden (obwohl es höflichere Kaufleute
geben soll als die Zürcher), ließ mich wieder einmal be-
quem und fein rasieren, nahm ein köstliches Dampfbad
und saß gegen Abend in einem vielbesuchten Cafö, wo
es französische und italienische Journale, elegante Gäste,
eifrige Kellner und gute Billards gab. Augleich war ich
mir mit einer heimlichen Schadenfreude bewußt, das
alles herzlich und wohlig zu genießen, was den Stadt-
leuten längst schal und alltäglich war, und möglicherweise
bin ich in diesen Tagen der zuftiedenste Mensch in der
ganzen Stadt gewesen.
Am Ende der Woche wollte es mir scheinen, es sei
nun für dieses Mal genug und es wäre jetzt gut, wieder
daheim zwischen See und Wald zu sitzen, im gewohnten
Bett zu schlafen und auch wieder ans Arbeiten zu denken.
Die Menschen fingen an, mir weniger zu imponieren,
mir etwas weniger lebendig und geistreich vorzukommen,
auch fühlte ich ein Bedürfnis, die taglichen Kunstgenüsse
nun in Ruhe nachzukosten, denn sie begannen schon sich
ein wenig zu verwirren und ein wenig blasser zu werden.
Also nach Hause!
Aber nun hatte ich acht Tage lang über den Aürichsee
hinweg die bleichen, stillen Alpen gesehen, und mit dem
allmählichen Müdewerden und Sattwerden war das
lange nicht mehr gehörte Lied vom Steinadler und von
der Wintermondnacht mächtig in mir aufgewacht. Mein
Reisegeld reichte noch für zwei, drei Tage aus und ich
beschloß, noch eine rasche Fahrt an den Gotthard zu tun,
den ich im Winter noch nie gesehen hatte außer beim
eiligen Durchreisen. Schneegamaschen und das übrige
Winterzeug hatte ich bei mir, so brauchte ich nur noch
ein Billett zu kaufen und abzufahren.
Es war ein grauer Tag, vom Wagenfenster aus
konnte man außer den zunächst stehenden Baumen,
Hügeln und Häusern nichts unterscheiden, alles zerrann
in blassem Nebelbrodem, der nur durch den noch frischen,
reinen Schnee einiges Licht erhielt. Der Augersee
wollte sich zu meinem Erstaunen nicht zeigen, bis ich
entdeckte, daß er überftoren und eingeschneit war. Mit
Ungeduld wartete ich auf ein Aeichen von Sonne und
auf das Reißen der Nebel. Jn Arth, in Brunnen, in
Flüelen erwartete ich es, und als wir Erstfeld passiert
hatten — es war schon Mittag — und noch immer in
Wolken und Dämmerung dahinfuhren, begann ich den
Glauben zu verlieren und machte mich enttäuscht darauf
gefaßt, oben Schneefall und Trübe anzutreffen. Selten
bin ich mit so gespannter Aufmerksamkeit die wunder-
volle Gotthardbahn hinauf gefahren, aber Amsteg lag
im Nebel, Gurtnellen lag im Nebel, die kühnen Reuß-
brücken lagen im Nebel, und als ich an Wassen vorbei-
fuhr und auch dort noch keine Sonne antraf, gab ich die
Hoffnung auf und sank in die Bank zurück. Die Berge
sind ja immer schön und auch den Nebel genieße ich zu-
zeiten ganz gern; aber wenn man weiß, wie ein Sonnen-
tag in der Höhe aussieht, und wenn man nur zwei oder
drei Tage übrig hat, tut es immerhin weh, vergebens
auf blauen Himmel zu warten.
Während ich schon anfing zu überlegen, ob mein Aus-
flug nicht eine recht übereilte Geldvergeudung sei, fuhr
der Aug oberhalb Wassen aus dem Kehrtunnel, und in
dem Dunst und grauweißen Schneelicht glaubte ich
plötzlich eine Ahnung von Bläue und Sonne zu spüren.
Eilig sprang ich auf, öffnete das Fenster und spähte
himmelwärts. Da drang langsam und unsicher eine hohe
Felsenschroffe mit schrägen Schneeritzen rötlich aus dem
Gewölk und wurde klarer und kam näher, und hinter
ihr noch eine und darüber eine dritte; ein schwerer Wind-
stoß fegte aus der Höhe herab, Wolkenfetzen zerstoben
dünn und geisterhaft, und in wenigen Augenblicken ent-
schleierte sich das ganze Bergland, lag lachend und
sonnenglänzend in einer durchsichtigen milden Luft und
hatte einen reinen, stillen, fast veilchenblauen Himmel
über sich. Ein tiefes Lustgefühl kam über mich, hundert
ähnliche Bergwintertage wachten in meiner Erinnerung
auf, golden und strahlend und jeder ein Kleinod. Nun
dachte ich nicht an den Adler und nicht an die Mond-
nacht mehr, leicht wie ein Knabe sprang ich in Göschenen
aus dem Wagen und lief in die blaue Herrlichkeit hinein.
Alle Grate und Gipfel standen so wunderlich klar
und nah, wie man sie nur an auserlesenen Wintertagen
sehen kann, mit langen violetten Schatten und gleißenden
Schneefeldern. Es ging ein mäßiger Föhnwind und die
durchsonnte Luft war frühlinghaft warm. Wieder wie
an manchen früheren Wandertagen stand ich häufig still
und hatte im Umherblicken ein Gefühl, als sei alles ein
Zauber und könnte plötzlich verschwinden. Und wieder
dachte ich, wie schon an manchem schönen Wandertage,
still bei mir: So verklärt siehst du die Erde nicht wieder!
Auf der vom Holzschleifen ausgewühlten, vom Winde
bald blank gefegten, bald ganz verwehten, mit etwa
meterhohem gefrorenem Schnee bedeckten Straße stieg
ich langsam gegen den brausenden Wind bergan, den
Schöllenen und der Teufelsbrücke entgegen. Die be-
rühmte, herrliche Straße und dieser ganze Teil des wilden
Reußtales sind im Winter unendlich viel schöner als ich
sie im Sommer gesehen habe. Und wie ein Märchen ist
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für immer im Gedächtnis. Seither besuchte ich die Berge
nie ohne eine stille Hoffnung, ihn etwa wiederzusehen,
und hundertmal schaute ich auf Höhenwegen mit oft
enttauschten Augen nach ihm aus. Selten hat die Hoff-
nung sich erfüllt und so blieb sie unvermindert in mir
lebendig. Es gibt Dinge und Wünsche, an die ich alle
aufatmende Lebensüist und die Vorstellung der innigsten
Erdenlust knüpfe; zu diesen gehören vielleicht vor allen
andern die drei: eine sternklare Winternacht im Hoch-
gebirge, eine abendliche Barkenfahrt zu Füßen irgend
einer italienischen Küstenstadt, und dann das Erspahen
eines Adlers über den Bergen. So oft Enttäuschung
und Sorge mich müde machen, so oft ein leerer und
unschöner Tag mich verdrießt und lähmt, flüchte ich zu
diesen Bildern, und wenn sie auch zumeist nur Wünsche
sind und unerfüllbar bleiben, so hat doch mein Verlangen
darin ein schönes und festes Aiel gefunden, und das ist
schon halbe Genesung.
Diesen Winter war ich eine Woche in Aürich drüben,
um die lange stille Aeit zu unterbrechen und einmal wieder
Kultur zu atmen, Menschen zu sehen und mich als Aeit-
genossen zu fühlen. Es waren schöne, wohl ausgefüllte
Tage; ich sah alte und neue Bilder, hörte Beethoven,
Mozart und Hugo Wolff, verkehrte mit befreundeten
Malern, Dichtern, Redakteuren, Geschäftsleuten, sah
bevölkerte Straßen, rasche Wagen und schön gekleidete
Frauen, trank nachts meinen Wein bei lebhaften Ge-
sprächen. Jch genoß das Vergnügen, in guten Läden
gut bedient zu werden (obwohl es höflichere Kaufleute
geben soll als die Zürcher), ließ mich wieder einmal be-
quem und fein rasieren, nahm ein köstliches Dampfbad
und saß gegen Abend in einem vielbesuchten Cafö, wo
es französische und italienische Journale, elegante Gäste,
eifrige Kellner und gute Billards gab. Augleich war ich
mir mit einer heimlichen Schadenfreude bewußt, das
alles herzlich und wohlig zu genießen, was den Stadt-
leuten längst schal und alltäglich war, und möglicherweise
bin ich in diesen Tagen der zuftiedenste Mensch in der
ganzen Stadt gewesen.
Am Ende der Woche wollte es mir scheinen, es sei
nun für dieses Mal genug und es wäre jetzt gut, wieder
daheim zwischen See und Wald zu sitzen, im gewohnten
Bett zu schlafen und auch wieder ans Arbeiten zu denken.
Die Menschen fingen an, mir weniger zu imponieren,
mir etwas weniger lebendig und geistreich vorzukommen,
auch fühlte ich ein Bedürfnis, die taglichen Kunstgenüsse
nun in Ruhe nachzukosten, denn sie begannen schon sich
ein wenig zu verwirren und ein wenig blasser zu werden.
Also nach Hause!
Aber nun hatte ich acht Tage lang über den Aürichsee
hinweg die bleichen, stillen Alpen gesehen, und mit dem
allmählichen Müdewerden und Sattwerden war das
lange nicht mehr gehörte Lied vom Steinadler und von
der Wintermondnacht mächtig in mir aufgewacht. Mein
Reisegeld reichte noch für zwei, drei Tage aus und ich
beschloß, noch eine rasche Fahrt an den Gotthard zu tun,
den ich im Winter noch nie gesehen hatte außer beim
eiligen Durchreisen. Schneegamaschen und das übrige
Winterzeug hatte ich bei mir, so brauchte ich nur noch
ein Billett zu kaufen und abzufahren.
Es war ein grauer Tag, vom Wagenfenster aus
konnte man außer den zunächst stehenden Baumen,
Hügeln und Häusern nichts unterscheiden, alles zerrann
in blassem Nebelbrodem, der nur durch den noch frischen,
reinen Schnee einiges Licht erhielt. Der Augersee
wollte sich zu meinem Erstaunen nicht zeigen, bis ich
entdeckte, daß er überftoren und eingeschneit war. Mit
Ungeduld wartete ich auf ein Aeichen von Sonne und
auf das Reißen der Nebel. Jn Arth, in Brunnen, in
Flüelen erwartete ich es, und als wir Erstfeld passiert
hatten — es war schon Mittag — und noch immer in
Wolken und Dämmerung dahinfuhren, begann ich den
Glauben zu verlieren und machte mich enttäuscht darauf
gefaßt, oben Schneefall und Trübe anzutreffen. Selten
bin ich mit so gespannter Aufmerksamkeit die wunder-
volle Gotthardbahn hinauf gefahren, aber Amsteg lag
im Nebel, Gurtnellen lag im Nebel, die kühnen Reuß-
brücken lagen im Nebel, und als ich an Wassen vorbei-
fuhr und auch dort noch keine Sonne antraf, gab ich die
Hoffnung auf und sank in die Bank zurück. Die Berge
sind ja immer schön und auch den Nebel genieße ich zu-
zeiten ganz gern; aber wenn man weiß, wie ein Sonnen-
tag in der Höhe aussieht, und wenn man nur zwei oder
drei Tage übrig hat, tut es immerhin weh, vergebens
auf blauen Himmel zu warten.
Während ich schon anfing zu überlegen, ob mein Aus-
flug nicht eine recht übereilte Geldvergeudung sei, fuhr
der Aug oberhalb Wassen aus dem Kehrtunnel, und in
dem Dunst und grauweißen Schneelicht glaubte ich
plötzlich eine Ahnung von Bläue und Sonne zu spüren.
Eilig sprang ich auf, öffnete das Fenster und spähte
himmelwärts. Da drang langsam und unsicher eine hohe
Felsenschroffe mit schrägen Schneeritzen rötlich aus dem
Gewölk und wurde klarer und kam näher, und hinter
ihr noch eine und darüber eine dritte; ein schwerer Wind-
stoß fegte aus der Höhe herab, Wolkenfetzen zerstoben
dünn und geisterhaft, und in wenigen Augenblicken ent-
schleierte sich das ganze Bergland, lag lachend und
sonnenglänzend in einer durchsichtigen milden Luft und
hatte einen reinen, stillen, fast veilchenblauen Himmel
über sich. Ein tiefes Lustgefühl kam über mich, hundert
ähnliche Bergwintertage wachten in meiner Erinnerung
auf, golden und strahlend und jeder ein Kleinod. Nun
dachte ich nicht an den Adler und nicht an die Mond-
nacht mehr, leicht wie ein Knabe sprang ich in Göschenen
aus dem Wagen und lief in die blaue Herrlichkeit hinein.
Alle Grate und Gipfel standen so wunderlich klar
und nah, wie man sie nur an auserlesenen Wintertagen
sehen kann, mit langen violetten Schatten und gleißenden
Schneefeldern. Es ging ein mäßiger Föhnwind und die
durchsonnte Luft war frühlinghaft warm. Wieder wie
an manchen früheren Wandertagen stand ich häufig still
und hatte im Umherblicken ein Gefühl, als sei alles ein
Zauber und könnte plötzlich verschwinden. Und wieder
dachte ich, wie schon an manchem schönen Wandertage,
still bei mir: So verklärt siehst du die Erde nicht wieder!
Auf der vom Holzschleifen ausgewühlten, vom Winde
bald blank gefegten, bald ganz verwehten, mit etwa
meterhohem gefrorenem Schnee bedeckten Straße stieg
ich langsam gegen den brausenden Wind bergan, den
Schöllenen und der Teufelsbrücke entgegen. Die be-
rühmte, herrliche Straße und dieser ganze Teil des wilden
Reußtales sind im Winter unendlich viel schöner als ich
sie im Sommer gesehen habe. Und wie ein Märchen ist
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