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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 2
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Schmitt, Carl: Der Spiegel
DOI Artikel:
Bab, Julius: Wahrheit und dramatische Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0076

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Der Spiegel.

länglichste Sträfling bedanken. Franz Morphenius da-
gegen fühlte sich sofort heimisch in seinem neuen Pflichten-
kreise an der Wilhelmstraße.

Er ließ viele Menschen und Dinge vor sich stehen und
an sich vorbei laufen. Er nahm sie in sich auf, gab sie
frei und wunderte sich über seine Vielseitigkeit und
Rezeptivität. Selbst nachts glühte — ein überzeugender
Beweis für sein einsames Nachdenken — eine kleine
elektrische Lampe in ihm. Des Morgens ließ er die
Lampe ausgehen und beschäftigte sich wieder mit elek-
trischen Straßenbahnwagen, Milchkarren und Bäcker-
jungen. Die Leute liefen zum Geschäft, mittags zum
Essen, abends nach Hause oder zum Vergnügen, — der
Spiegel, unermüdlich, liebenswürdig und eifrig, gönnte
sich keine Ruhe; nichts von dem, was vorbei lief, blieb
ihm sremd; er machte sich alles zu eigen.

Der Spiegel kam zu Filgers ins Empfangszimmer und
begann dort seine Tätigkeit, gestärkt durch die kurze Ruhe,
zu der er sich im Möbelwagen entschlossen hatte. Er
reflektierte über junge elegante Kaufleute, die mit ihren
seidenen Strümpfen kokettierten, über Assessoren, die in
tadelloser Haltung warteten, bis sie freudig begrüßt
wurden, über Brautpaare und Eheleute. Eines Tages
kam Rosalie Blöing. Spiegel zitterte etwas, und eine
kleine Wellenbewegung lief über ihn. Er wurde sich
jedoch seiner hohen Aufgabe, allem gerecht zu werden,
alles objektiv zu würdigen, noch rechtzeitig bewußt und
ließ sich auch Rosalie Blöing durch den Kopf gehen. Sie
stand da und drehte sich vor ihm herum. Sie bemühte
sich offenbar um ihn. Das beruhigte ihn. Ein junger
Mensch in einem schwarzen Schoßrock kam ins Aimmer.
Auch er schien sich um Spiegels Gunst zu bewerben.

Spiegel war geschmeichelt. Er erinnerte sich an
Rosalie Blöing ziemlich deutlich — das erste Mal, daß
er sich an etwas erinnerte — er freute sich, daß sie ihm
zu gefallen suchte und Freude an ihm hatte. Er bewahrte
aber Haltung und Würde. Wie ein Dorfjunge, der
Minister geworden ist und zu dem sein früherer Lehrer
mit einem Bittgesuch kommt.

Plötzlich drehten ihm die beiden jungen Leute den
Rücken.

Spiegel geriet etwas in außer Fassung. Ium ersten
Male bezogen sich seine Reflerionen auf die Iukunft,
wenn auch nur die allernächsten Sekunden: wie, wenn der
junge Mann Rosalie Blöing um den Hals fassen und
küssen würde? Spiegel würde das natürlich nicht ge-
statten; er würde energisch einschreiten. Er fühlte die
Kraft dazu in sich.

Der junge Mann kam mit dem Ellenbogen ganz dicht
an Spiegel heran. Spiegel war fest entschlossen, sich nichts
bieten zu lassen. Der junge Mann wollte Rosalie Blöing
küssen. Spiegel spannte alles aufs äußerste und ver-
suchte zu schreien; er konnte sich aber vor Aufregung
nicht bewegen. Seine Sinne schwanden, sein Herz sprang.
Eine Sekunde später stieß der junge Mann mit dem Ellen-
bogen in den Spiegel, so daß niemand sich über den zer-
brochenen Spiegel wunderte und die Rationalisten
scheinbar recht behielten. Aber was weiß so ein Ratio-
nalist denn vom wirklichen Leben?

Die vielen kleinen Spiegel hatten jeder sein Schicksal
für sich. Einer lag lange bei einem Flickschneider in der

Mansarde eines Mietshauses und war ein beschaulicher
Asket geworden. Er interessierte sich nur noch für die
getünchte Wand und hie und da ein häßliches, altes
Gesicht mit struppigen Haaren und stachligem Bart.
Ein kleinerer Spiegel, der von einem Quintaner auf-
gehoben wurde, belustigte sich damit, den Quintaner
Grimassen schneiden zu lassen. Jn gehobener Stimmung
scheute er sich nicht, der Sonne mitten ins Gesicht zu
sehen, die Sonne in sich aufzunehmen und sie dann,
bloß zu seinem Spaß, einem berühmten Gelehrten ins
Gesicht zu werfen. Ein anderer Spiegel fiel einem
Philosophen in die Hände und versuchte, sich über sein
Verhältnis zu Tieren klarer zu werden. Er hielt zum
Beispiel Hunden ihr Bild so eindringlich vor die Seele,
daß sie sich scheu an ihm vorbeischlichen. Jhm, der seine
Stammesgenossen durch Genialität und Originalität der
Gedanken überragte, war ein natürliches Ende nicht be-
schieden; er wurde ein Opfer seines Erkenntnistriebes:
ein Aiegenbock, den er zur Selbsteinsicht mahnte und der
darüber irrsinnig wurde, zerstieß ihn in Splitter, die
nicht lebensfähig waren. Er war tatsächlich tot, er
eristierte nicht mehr als Jndividuum,denn er hat sich über
den Mangel an Nachkommen nicht einmal mehr mit dem
Gedanken getröstet, daß den meisten Genies ein der-
artiges Los beschieden ist.

Den andern Spiegeln dagegen war es vergönnt,
ihre Persönlichkeit auf dem Wege normaler Entwicklung
zur Reife zu bringen: sie lösten sich allmählich von der
Welt des Scheines und der Körperlichkeit los. Sie
erkannten die Nichtigkeit der Welt und aller Dinge, auch
die Nichtigkeit ihrer selbst. Sie gaben das falsche Sich-
dünken „Jch bin" auf. Der Quecksilberbeschlag löste sich;
durchsichtiges Glas blieb zurück. Jhre Seele ging auf in
der Weltseele, wo jede Jndividualität verschwindet.

ahrheitund dramatische Dichtung.

Wir brauchen die Dichtung nur um unserer
Wahrheit willen. Alle Kunst und alle Poesie
wird zum eitlen Spiel, sinkt auf das Niveau einer besseren
Kochkunst herab, sobald sie sich begnügt, uns köstliche
Einzelheiten, interessante Nervenerregungen, schöne Jm-
pressionen zu geben. Aber wir brauchen die Dichtung,
weil sie mit den Mitteln des sprechenden Geistes aus
tausend Einzelheiten einen Kosmos bildet, der unsere
Wahrheit spiegelt. Nicht die Wahrheit, aber die Wahr-
heit unserer stärksten Lebens- und Ieitgenossen, die stärkste
Wahrheit, deren wir zum mindesten ahnend, fähig sind.
Nur die letzte Wahrheit persönlicher Welterfahrung gibt
einer Dichtung Wert. Aber umgekehrt gibt nur die
Dichtung dieser Wahrheit Leben. Das ist ihr höchster
Beruf. Die Wahrheit, die ich meine, ist ja mit keinem
Bericht äußerer Wirklichkeiten zu fassen, und alle wissen-
schaftlichen Begriffe werden sie immer nur weit, ungefähr
und ungefährlich umkreisen. Gestalt, lebendig wirkende
Erscheinung wird unsere Wahrheit erst in der Kunst.
Die letzte Kraft, die unser Denken, Fühlen und Handeln
regiert, der Dämon, der uns zwingt, so und nicht anders
im Licht der Welt zu stehen, diesen und keinen anderen
Schatten zu werfen, diese letzte Wahrheit, die daS wirk-
 
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