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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 1
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Hesse, Hermann: Winterferien
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Trog, Hans: Josef Victor Widmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0038

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Winterferien.

die junge, tosende Reuß, die in ihrer verschneiten Klanun
unter bläulichen, häufig durchbrochenen Eisrinden hinab
schnellt, das einzige Leben in der weißen Todesstille.
Der kleine Wassersall oberhalb der Teufelsbrücke war
von einem scheinbar freischwebenden, aus dem Sprüh-
staub entstandenen Eisbaldachin mit hundert grotesken
Spitzen überwölbt.

Die Wetterscheide vor Andermatt war ein Erlebnis.
Aus der wilden, rauhen, vom Winde durchpfiffenen
und schattenkalten Schlucht trat ich durch den kurzen
Tunnel, den die Straße dort bildet, in ein weißes,
blendendes Sonnenland. Das breite Hochtal glänzte
warm, die abschließende Höhenwand war bläulich ver-
schattet, das stille Hospental mit dem schwarzen Longo-
bardenturm schlief klein und dunkel zwischen hohen Schnee-
mauern, drüben suchte mein Auge die verwehte und
vom Schnee gesperrte Flirkastraße. Merkwürdig sahen
in Andermatt die leeren, geschlossenen Fremdenhotels
aus, bis an die Parterrefenster im Schnee begraben,
aus dem nur noch die Spitzen der eisernen Gartenzäune
hervorragten. Jn der Krone trank ich einen Kaffee
und wärmte mich auf dem steinernen Sitzofen, den vor
etwa siebzig Jahren der damalige Hausbesitzer Kolumban
Kamenzind erbaut hat. Sein und seiner Frau Namen
stehen in altmodischer Schrift auf der Hauptplatte.

Es ging gegen Abend und der Schnee begann rötlich
zu scheinen, da kehrte ich um, und da geschah es, daß ich
hoch am Berge, noch über der obersten Windung der
Oberalpstraße, einen Vogelflug wahrnahm. Es war ein
großer, still und langsam kreisender Steinadler, und ich
blieb stehen und sah ihm lange zu, seltsam von dieser
Erfüllung meines beinahe schon vergessenen Wunsches
betroffen. Und nun wußte ich, daß mir auch eine klare
Sternennacht nicht fehlen würde, denn der Föhn hielt
in mäßiger Stärke noch immer an und gegen Süden war
der Himmel so rein blau, wie der offene Kelch des
Frühlingsenzian.

Der Rückweg talabwärts nach Göschenen war keine
Arbeit mehr. Jm Rößli ließ ich mir Wein und Essen
geben und ruhte eine Weile, bis nachts gegen ein Uhr
über den steilen Grat der fast noch völlige Mond heraus-
kam. Da band ich die Gamaschen um, zog Fausthand-
schuhe an und wanderte durch das schlummernde Dorf
und an dem alten Fruttkirchlein vorüber den wunderbar
stillen Weg durch das enge Seitental, dem Donner-
gletscher und der Göschenenalp entgegen. Jch schritt
ohne Aiel und ohne Mühe, soweit der Pfad es erlaubte,
und kehrte, als ich müde ward, langsam wieder um.
Auf dem weichen Schneeweg hörte ich meine eigenen
Schritte nicht, und auch sonst war nirgends ein Ton zu
hören, in der Höhe gegen den nachtblauen Himmel
glänzte matt der überschneite Gletscher, das weiße
Mondlicht erfüllte das Tal und war so hell, daß ich bei
der Frutt die knapp noch aus dem Schnee ragende Tafel
lesen konnte, die man einem dort von der Lawine
erschlagenen sechzehnjährigen Knaben gesetzt hat. Groß
und flimmernd standen viele Sterne in der Nacht, und
ihr Leuchten und das weiß schimmernde Mondland und
das Schweigen der matten Gipfel will ich nie vergessen.

Als ich morgens nach mehreren Stunden eines
tiefen Schlafes aufstand und ans Fenster lief, war am
oberen Rande des Gletschers schon wieder Sonne. Jns

Tal kam sie freilich nicht. Die Häuser der Frutt und die
letzten diesseitigen Wohnstätten von Göschenen haben
von Ende Oktober bis Ende Februar keinen Sonnen-
strahl. Aber weiter vorn im Dorfe und das Reußtal
abwärts mußte es noch vor Mittag sonnig werden. Jch
beschloß, einen Teil der Heimfahrt auf dem Bergschlitten
zurückzulegen. Zwar hätte ich diesen Tag noch hier oben
bleiben können, aber es sah aus, als würde sich morgen
das Wetter ändern, und ich hatte keine Lust, diese beiden
Glanztage mit einem trüben Abschied abzuschließen. So
machte ich nur noch einen Schlendergang an die Schölle-
nen und zurück, nahm dann gegen Mittag Abschied und
entlehnte einen kräftigen Bergschlitten, den ich per
Bahn zurückzuschicken versprach.

Gleich jenseits der Bahnschienen konnte ich aufsitzen
und laufen lassen, und sauste oberhalb der Reußschlucht,
mit nur zwei kurzen Unterbrechungen, bis Wassen
hinunter in wenigen Minuten. Vor und durch Wassen
stieg der Weg eine Weile, dann ging es die wundervolle
Strecke bis Gurtnellen und über die märchenhafte Brücke
fast ohne Aufenthalt im eiligsten Laufe abwärts. Es
gibt wenig, das packender und sprühender wäre, als so
eine sausend glatte Talfahrt auf niederem Schlitten,
durch pfeifende Luft und an Schneemauern vorüber,
die Wintersonne im Nacken und vor sich die mächtigen
Berge, die kühl und kühn im warmen blauen Glanze
ruhen.

Meine Fahrt war zu Ende. Jch kam eben noch recht/
um meinen Schlitten aufzugeben und in den Aug zu
springen.

Vor anderthalb Tagen, als ich herfuhr, war das untere
Reußtal und der Urner Seestrand noch im Schnee ge-
legen. Der Föhn, der den Schneemassen auf'der Höhe
noch nichts anhaben konnte, hatte hier unten inzwischen
mächtig gearbeitet. Je weiter wir talwärts suhren, desto
dünner lag der hier schon wässerige Schnee, und in Alt-
dorf und Flüelen standen schon alle Matten feucht und
graugrün in der lauen Mittagsluft.

(^osefVictorWidmann(t6.Nov.).

M Jn Bern ist am 6. November Josef Victor Wid-
mann gestorben. Am 20. Februar 1912 würde
er seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert haben. Eine
Lungenentzündung raffte ihn unerwartet weg und
entzog ihn den üblichen Ehrungen, mit denen man
Siebzigjährige zu bekränzen pflegt. Es wird berichtet,
er habe noch, im'Bewußtsein des herannahenden Endes,
seiner Befriedigung darüber Ausdruck verliehen, diesen
unvermeidlichen Ovationen zu entgehen. Ahnlich würde
ihm eine solche Außerung durchaus gesehen haben; denn
er war tiefinnerlich ein bescheidener Mensch, und die
Feierlichkeit stand ihm nicht. „Ein feierlicher Kerl ist
niemals groß" spricht Zeus im „Historischen Adelsklub".
Auch dieses Wort Karl Spittelers, dem Widmann mit
nie erlahmender Begeisterung die Fackel des Ruhmes
aus innerster überzeugung vorantrug, hätte er jeden
Augenblick unterschrieben.

Vater und Mutter waren Wiener. Sie hatten sich
in Liebe zusammengetan dem klösterlichen Gelübde
zum Trotz, das der junge Mann unbedacht eingegangen
 
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