Wahrheit und dramatische Dichtung.
großartige Gesten zu machen. Und damit sind wir wieder
bei jener Kostümdramatik, jenem bedeutungslosen Spiel
moderner Empfindsamkeit mit alten Heldennamen, das
vor einem Menschenalter die Geibel, Kruse, Dahn und
Wilbrandt aufführten, und dem wir uns seit der natu-
ralistischen Revolution entronnen glaubten. Denn das
Recht des NaturalismuS war bei all seinen ästhetischen
Jrrtümern in dem Gefühl gegründet, daß Kunst ein
Naturvorgang, etwas sachlich Notwendiges, sachlich
Produktives bei Autor und Publikum sein müsse, nicht
ein Unterhaltungsspiel mit kulturellen Reminiszenzen.
Die Stücke dieses Hardt sind wieder solche Unterhaltungs-
spiele, die wir nicht brauchen; sie wissen von unserer
Wahrheit nichts.
Es ist zum Schluß noch von dem mißlungenen Werke
eines Mannes zu reden, der viel von unserer Wahrheit
weiß, vielleicht am meisten von allen lebendigen Deut-
schen. Aber sein Werk ist mißlungen, im Sinne jener
letzten noch übrigen Möglichkeit theatralischer DeS-
organisation. Richard Dehmel ist gewiß von allen
Dichtern heute am meisten davon entfernt, „Spielereien"
zu treiben. Niemand steht mit ehrfürchtigerem Natur-
gefühl, niemand mit tieferem Kulturgewissen über sein
Werk gebeugt. Es hat ihm auch nicht am Willen zur
theatralischen Form, zu einer für den Schauspieler taug-
lichen Verkürzung, Bewegung, Steigerung alles Dar-
gestellten gefehlt. Aber sein Werk mißlang, weil im An-
fang der ganzen Komposition keine formgebende Vision
sondern ein aussprechender Wille stand. Jn seiner
Komödie „Michel Michael"* hat Dehmel seine letzte
Wahrheit nicht wie in seinen großen lyrischen Schöpfun-
gen visionar verleiblicht, sondern rhetorisch paraphrasiert.
Der Michel, der sein Haus verkaufen will, weil es ihn
in die Stadt lockt, und dem da auf dem Maskenfest
Honoratioren und Genossen so übel mitspielen, daß er
vom Stadtwahn geheilt ist und die Lise Lid, seine liebe,
warnende, singende Seele, heiraten und mit ihr auf
neuem Grund ein eigenes Haus bauen wird — dieser
heldische und tappische Michel Michael ist mit all seinem
Tun und Sprechen selbst doch nur eine Redefigclr, eine
rhetorische Metapher, keine dichterische Gestalt. Was er
bedeutet, verstehen wir wohl: er verkündet die unzer-
störbar traumfrohe und wirklichkeitsstarke Lebenslust, die
Dehmel, von sich auf die Anderen schließend, im deutschen
Menschen glaubt; er kündet das lachende Aufnehmen und
Überwinden jedes Strebens, das als Kraft begrüßt, als
Parteidogma verhöhnt wird; er kündet das lächelnde
Vertrauen ins Wachstum des Menschengeistes, dem alle
Jrrtümcr nur tiefere Wege zu sich selbst sind: „Hundert
Menschheiten stecken in jeder Haut" und „aus Schutt
wird Feuer, wird Warme, wird Licht". Das verstehen
wir alö „Michel Michaels" Bedeutung; es ist viel von
unser letzten Wahrheit darin, und das ist das Schöne
und Große auch an dieser Komödie. Das Schlimme
ist nur, daß wir es zu gut verstehen, daß es uns gesagt
wird, in einer Bildersprache, aber mit derbster Deutlich-
keit gesagt — statt daß wir etwas erleben, als dessen
Sinn wir diese Bedeutung fühlen. Michel Michael ist
stets so bedeutungsvoll, wie sein Name; niemals ist er
* Als Buch bei S. Fischer; gespielt in Hamburg am „Deut-
schen Schauipielhaus".
wirklich ein Bergmanns- und Schäferssohn, an den wir
glauben können, immer muß der Verstand hinter seinen
Worten her sein, um sie beziehungsreich auszudeuten.
Das ist kein dumpfer Michel, der etwas erlebt und darüber
zu einem kämpferischen Michael wird; immer hat er
das ganze Bewußtsein seiner Bedeutung, seiner repräsen-
tativen Stellung auf den Lippen; er träumt fin der zwei-
potenzigen Allegorie des dritten Aktes) Dehmels ganze
erotische Philosophie, er redet (nur in den Vokabeln
äußerlich naiv) die ganze wissende Soziologie seines
Dichters. Und so sind alle anderen Gestalten stark typen-
haft, nur mit der einen einzigen Bedeutung angegeben,
die sie für den Grundgedanken haben: sie sprechen sich
nicht lebendig, sie machen sich nur „deutlich"; nichts
lebt, nichts entlaßt uns aus dem Allegorischen ins Mensch-
liche, Fühlbare, Symbolische. Der Strom von Dehmels
mächtiger Sprachkunst trocknet in den Sandfeldern
dieser Bedeutsamkeit ein, nur Streifen und Flecken
des lebendigen Wassers bleiben zurück, schöne Einzel-
heiten. Das Ganze bleibt ein rhetorischer Awitter, weil
unsere Wahrheit besprochen aber nicht geformt ist, und
weil doch das, was Dehmel sagen will, begrifflich nicht
voll faßbar und nur in Gestalten zu lösen ist. Jn den
Visionen seiner Lyrik hat er solche klingende Gestalt
gegeben. Wenn er von keinem allzu bewußten Willen
gehetzt einmal den Blick seines großen Auges auf einer
Menschengestalt ruhen lassen wird, einer lebendigen
Gestalt, die durch seine Liebe zum Symbol seiner Mensch-
lichkeit wachsen wird — vielleicht daß seiner frommen,
klaraugig traumenden Kraft dann doch noch die dra-
matische Dichtung gelingt, in der unsere Wahrheit ist.
Julius Bab.
leine Auffähe über Musik.
4. Vom Mechanischen in der Musik.
Die melodischen Umkehrungen sind bekanntlich dem
Original nicht häcifig an Wert ebenbürtig; noch seltener
wirken sie in ähnlichem Charakter wie das Original.
Jn Harmonie und Rhythmus ist hiebei ein Moment zu
beobachten, das den Vergleich mit der Schwerkraft
nahelegt.
Jch spiele das erste Motiv der vierten Symphonie
von Bruckner: und mein rhythmisches Gefühl sagt ohne
weiteres Ja zu diesem Bild; dagegen überzeugt dessen
Spiegelbild (das ist die melodische Umkehrung) nicht so
kräftig.
s>. b.
Daß die obere Quint so wie im Sprung, durch ein
Sichabstoßen oder Sichabschnellen erreicht wird, ist
natürlich; umgekehrt aber ist das Gegenbild wenigstens
mit dem Fehler des Unnötigen, des Verschwendens
behaftet, wenn auch nicht gerade unnatürlich. Das
beständige Herrschen des originalen Motivs läßt uns
auch dessen Umkehrung verstehen und annehmen; als
„abgeleitet" mag sie gelten, an sich aber, selbständig,
großartige Gesten zu machen. Und damit sind wir wieder
bei jener Kostümdramatik, jenem bedeutungslosen Spiel
moderner Empfindsamkeit mit alten Heldennamen, das
vor einem Menschenalter die Geibel, Kruse, Dahn und
Wilbrandt aufführten, und dem wir uns seit der natu-
ralistischen Revolution entronnen glaubten. Denn das
Recht des NaturalismuS war bei all seinen ästhetischen
Jrrtümern in dem Gefühl gegründet, daß Kunst ein
Naturvorgang, etwas sachlich Notwendiges, sachlich
Produktives bei Autor und Publikum sein müsse, nicht
ein Unterhaltungsspiel mit kulturellen Reminiszenzen.
Die Stücke dieses Hardt sind wieder solche Unterhaltungs-
spiele, die wir nicht brauchen; sie wissen von unserer
Wahrheit nichts.
Es ist zum Schluß noch von dem mißlungenen Werke
eines Mannes zu reden, der viel von unserer Wahrheit
weiß, vielleicht am meisten von allen lebendigen Deut-
schen. Aber sein Werk ist mißlungen, im Sinne jener
letzten noch übrigen Möglichkeit theatralischer DeS-
organisation. Richard Dehmel ist gewiß von allen
Dichtern heute am meisten davon entfernt, „Spielereien"
zu treiben. Niemand steht mit ehrfürchtigerem Natur-
gefühl, niemand mit tieferem Kulturgewissen über sein
Werk gebeugt. Es hat ihm auch nicht am Willen zur
theatralischen Form, zu einer für den Schauspieler taug-
lichen Verkürzung, Bewegung, Steigerung alles Dar-
gestellten gefehlt. Aber sein Werk mißlang, weil im An-
fang der ganzen Komposition keine formgebende Vision
sondern ein aussprechender Wille stand. Jn seiner
Komödie „Michel Michael"* hat Dehmel seine letzte
Wahrheit nicht wie in seinen großen lyrischen Schöpfun-
gen visionar verleiblicht, sondern rhetorisch paraphrasiert.
Der Michel, der sein Haus verkaufen will, weil es ihn
in die Stadt lockt, und dem da auf dem Maskenfest
Honoratioren und Genossen so übel mitspielen, daß er
vom Stadtwahn geheilt ist und die Lise Lid, seine liebe,
warnende, singende Seele, heiraten und mit ihr auf
neuem Grund ein eigenes Haus bauen wird — dieser
heldische und tappische Michel Michael ist mit all seinem
Tun und Sprechen selbst doch nur eine Redefigclr, eine
rhetorische Metapher, keine dichterische Gestalt. Was er
bedeutet, verstehen wir wohl: er verkündet die unzer-
störbar traumfrohe und wirklichkeitsstarke Lebenslust, die
Dehmel, von sich auf die Anderen schließend, im deutschen
Menschen glaubt; er kündet das lachende Aufnehmen und
Überwinden jedes Strebens, das als Kraft begrüßt, als
Parteidogma verhöhnt wird; er kündet das lächelnde
Vertrauen ins Wachstum des Menschengeistes, dem alle
Jrrtümcr nur tiefere Wege zu sich selbst sind: „Hundert
Menschheiten stecken in jeder Haut" und „aus Schutt
wird Feuer, wird Warme, wird Licht". Das verstehen
wir alö „Michel Michaels" Bedeutung; es ist viel von
unser letzten Wahrheit darin, und das ist das Schöne
und Große auch an dieser Komödie. Das Schlimme
ist nur, daß wir es zu gut verstehen, daß es uns gesagt
wird, in einer Bildersprache, aber mit derbster Deutlich-
keit gesagt — statt daß wir etwas erleben, als dessen
Sinn wir diese Bedeutung fühlen. Michel Michael ist
stets so bedeutungsvoll, wie sein Name; niemals ist er
* Als Buch bei S. Fischer; gespielt in Hamburg am „Deut-
schen Schauipielhaus".
wirklich ein Bergmanns- und Schäferssohn, an den wir
glauben können, immer muß der Verstand hinter seinen
Worten her sein, um sie beziehungsreich auszudeuten.
Das ist kein dumpfer Michel, der etwas erlebt und darüber
zu einem kämpferischen Michael wird; immer hat er
das ganze Bewußtsein seiner Bedeutung, seiner repräsen-
tativen Stellung auf den Lippen; er träumt fin der zwei-
potenzigen Allegorie des dritten Aktes) Dehmels ganze
erotische Philosophie, er redet (nur in den Vokabeln
äußerlich naiv) die ganze wissende Soziologie seines
Dichters. Und so sind alle anderen Gestalten stark typen-
haft, nur mit der einen einzigen Bedeutung angegeben,
die sie für den Grundgedanken haben: sie sprechen sich
nicht lebendig, sie machen sich nur „deutlich"; nichts
lebt, nichts entlaßt uns aus dem Allegorischen ins Mensch-
liche, Fühlbare, Symbolische. Der Strom von Dehmels
mächtiger Sprachkunst trocknet in den Sandfeldern
dieser Bedeutsamkeit ein, nur Streifen und Flecken
des lebendigen Wassers bleiben zurück, schöne Einzel-
heiten. Das Ganze bleibt ein rhetorischer Awitter, weil
unsere Wahrheit besprochen aber nicht geformt ist, und
weil doch das, was Dehmel sagen will, begrifflich nicht
voll faßbar und nur in Gestalten zu lösen ist. Jn den
Visionen seiner Lyrik hat er solche klingende Gestalt
gegeben. Wenn er von keinem allzu bewußten Willen
gehetzt einmal den Blick seines großen Auges auf einer
Menschengestalt ruhen lassen wird, einer lebendigen
Gestalt, die durch seine Liebe zum Symbol seiner Mensch-
lichkeit wachsen wird — vielleicht daß seiner frommen,
klaraugig traumenden Kraft dann doch noch die dra-
matische Dichtung gelingt, in der unsere Wahrheit ist.
Julius Bab.
leine Auffähe über Musik.
4. Vom Mechanischen in der Musik.
Die melodischen Umkehrungen sind bekanntlich dem
Original nicht häcifig an Wert ebenbürtig; noch seltener
wirken sie in ähnlichem Charakter wie das Original.
Jn Harmonie und Rhythmus ist hiebei ein Moment zu
beobachten, das den Vergleich mit der Schwerkraft
nahelegt.
Jch spiele das erste Motiv der vierten Symphonie
von Bruckner: und mein rhythmisches Gefühl sagt ohne
weiteres Ja zu diesem Bild; dagegen überzeugt dessen
Spiegelbild (das ist die melodische Umkehrung) nicht so
kräftig.
s>. b.
Daß die obere Quint so wie im Sprung, durch ein
Sichabstoßen oder Sichabschnellen erreicht wird, ist
natürlich; umgekehrt aber ist das Gegenbild wenigstens
mit dem Fehler des Unnötigen, des Verschwendens
behaftet, wenn auch nicht gerade unnatürlich. Das
beständige Herrschen des originalen Motivs läßt uns
auch dessen Umkehrung verstehen und annehmen; als
„abgeleitet" mag sie gelten, an sich aber, selbständig,