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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 9
DOI Artikel:
Noll, Gustav: Vier Gedichte
DOI Artikel:
Lewin, Robert: Surrogate
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0349

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und während die Menschen noch nn'ide schlafen,
lcinden schon Dinge in meinem Hafen.

Da reckt sich ein Schrank mit breiter Brust,
Fayencen spiegeln sich selbstbewußt,
ein Teppich schickt wirre Arabesken
zu mir herein, und ich wandle zu Fresken
den Tisch, die Stühle, das bauschige Bette,
ini Fenster die rosige Bergeskette,
daneben Wände mit bröckelnden Krumen
und blühende Blumen.

Dann erwacht der Mensch, und ein Jagen beginnt,
Bild auf Bild erscheint und zerrinnt:
gepfeilte Brau'n über schmelzenden Blicken,
Hände, die sich in Hande schicken;

Gestalten gleiten, es öffnen sich Türcn,
die in den Tag und die Sonne führen.

Und ich gebe Antwort auf jene Fragen,

die die Menschen nur an den Einsamen wagen,

von den Jungen geliebt, von den Alten gehaßt,

zuerst ein Freund, hernach ein Gast,

zuletzt nur ein Knecht, den man mürrisch befragt,

weil er selbst stumm noch die Wahrheit sagt.

So bin ich ihncn bald Tand und bald Segcn
und doch — es mag ihnen seltsam klingen —
in einem ihnen gewiß überlegen:
ich strcife den Lärm von ihren Dingen.

Altc Wanduhr.

Jch bin der Kämpfer, der nie unterliegt,
niein Fuß wird von keiner Stunde besiegt,

Nacht und Tag gilt mir gleich.

Fremd ist mir Schmcrz und Qual und Glück,
nieincn Schritt lenkt keine Reue zurück,
vor mir liegt immer mein Reich.

Durch die Stille der blauenden Dämmerung
zieht silberne Fäden mein Pendelschwung,
und längst, wenn der Schlaf alles Wachen bezwang,
knirscht noch mein Gang.

Dann geh ich am Rand deiner Rast dahin
und führe die Stundcn an meiner Hand;
du aber, aus Träumen in Wachen gewandt,
fährst jählings empör, fühlst Dunkel und Wand
und suchst meinen Sinn.

Das Bctt.

Ich bin das gastlichste Haus,
aufgetan Reichen und Armen;

Freund und Feind überwölbt
meines Daches Erbarmen.

Manchmal bin ich ein Schrein,
gluten- und lustdurchhellt,
und manchmal die letzte Wand
vor Wut und Welt.

Drci Türen gehn aus mir aus
zwischen seidnen und linnenen Kissen:
die erste führt zu Schlummer und Traum,
die zweite zu Kummer und Tag und Raum,
die letzte von dunkelnder Schwelle
hinüber zum Ungcwisscn.

urrogate.

Lange stand ich sinnend vor einem stattlichen
Hause in Berlin; eine Sandsteinfassade, die
sich wuchtend abhob von den eintönigen Wohnhäusern
der Städter. Auf solidem Unterbau erhebt sich das
Gebäude im Renaissancestil unserer Tage, gigantisch,
Reichtum atnicnd und doch schlicht, nur einem großen
Awecke dienend. Mit den drei Hinterhäusern aus feinstem
Verblendermaterial bedeckt es das Areal eines ganzen
Hauserblocks. Lange mußt ich sinnen und wurde den
Eindruck nicht los, daß ich vor dem Tempel des Pluto
stand. Dcnn als einzigen Fassadenschmuck sah ich die
Köpfe der Ceres und des Hermes und — das Wort
mit großen Lettern in Stein gemeißelt. N^OOI
— ein Aauberwort, eine mythologische Formel für
den Kult in diesem Tempel. Hinter dicsem steinerncn
Worte steht in grandioser Unerschütterlichkeit mit seinem
Reichtum, sciner Betriebsamkeit der stolze Bau, und
aus dicscni eincn Worte ist all dcr Reichtum empor-
gewachsen.

Auf unseren Fahrten, von Dachern und Giebeln,
banntc es unseren Blick, und vertraut klingt unserem
Ohre das: „Nehmct Maggi zum Würzen der Suppe".
Es sog sich ein in alle Gehirne und warb das große
Heer der Obolusspender, und aus Pfennigspenden
für einen Tropfen Bvuillonersatz erstand die Sandstcin-
burg. Jch habc wenig Talent zum Nationalökononien;
sonst hatte ich Betrachtungen angestellt über den Ein-
fluß des Maggi und der Bouillonwürfel auf den all-
gemeüien Wohlstand. Vielleicht ist hier ein großes Volks-
ernährungsproblem gelöst. Jch habe keine Lust zum
Hygieniker; sonst könnte ich vielleicht in der Maggisuppe
den Weg zur Volksgesundung erblicken. Aber auch für
daü Studium des SeelenlebenS und der Kultur bietct
die Eristenz des „Maggi" einc reiche Quelle der Er-
kenntnis. Das Fundament sür dicses stolze Maggi-Haus
ist die Macht der Suggestion; das gleiche Fundament
tragt unscre ganze Iivilisation. Die Nährquclle aber
für das Leben der Gegenwart ist, wie es scheint: „Surro-
gat". Diese beiden Begriffe, Suggestion und Surrogat,
sind hier nicht zufallig zusammengeraten. Jn der Wort-
bedcutung sind sie verwandt, mchr noch im psycho-
logischen Sinne. Denn, wenn Suggestion die Unterschie-
bung eines fremden Willens oder Gedankens bedeutet,
also die Verfalschung der Persönlichkeit, so ist Surrogat
die Verfälschung eines Sinnes; Ersatz, euphemistisch
ausgedrückt. Jn beiden Fällen wird etwas substituiert,
was der Natur des Menschen zuwiderläuft.

Das spezifisch moderne Leben ist nun ohne Suggestion
und Surrogat nicht vorzustellen. Beide scheinen Lebens-
elemente dcr Aivilisation zu sein. Unser Leben wird
ja schon von der Wiegc an durch die Macht dcr Suggestion
verfälscht, und Surrogate sind am Werke, alle unsere
Sinne zu pervertieren. Das Wort „Maggi" sei uns
Sinnbild hierfür. Die meisten Menschen wissen nichts
von einer Vornehmheit der Sinne, von einem Recht
unserer Persönlichkeit auf Kultur, auf Differenzierung
unserer Sinnesorgane. Lur hat einmal in einem
gcistvollen Buche gezeigt, wie das Auge bei der großen
Mehrheit der Menschen ein Sündendasein von Ver-
 
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