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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 5
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Benn, Joachim: Prinz Hamlets Briefe
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Aphorismen: aus Prinz Hamlets Briefen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0187

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Aphllrismen.

während er je nach Gelegenheit diese Gruppe und jene
vornimmt, bis er alle Stände und Klassen seiner Revue
unterzogen hat. Herrscher und Höflinge, Adel und
Priestertum, nicht zu vergessen das Parlament und
das „gebildete Bürgertum" werden gleich scharser, oft
vernichtender Kritik unterzogen. Jmmer gleich in seinen
menschlichen Grundsätzen, wechselnd aber in der Meinung
über die Maßnahmen, die ihnen im modernen Leben
neue Eristenz verleihen könnten, versucht der Prinz
unermüdlich, der Wirklichkeit sein Jdealreich gegenüber-
zustellen, wobei er seine Erörterung stets auf die aller-
breiteste geistige Basis stellt, so daß in dem Buche die
feine Luft echten Denkens lebt. Aber hier ist keine
Jnhaltsübersicht geplant: Die sollte jedem die Lektüre
des Buches selber verschaffen, und eine Auswahl von
Briefstellen, die sich durch ihre aphoristische Fassung
aus dem Tert herauslösen lassen, wird sicherlich dem
Buche der beste Fürsprecher sein. Joachim Benn.

phorismen.

(AuS Prinz HamletS Briefen.)

Das moderne Christentum ist unwahr, eine gesell-
schaftliche Spielerei, gepflegt, um den Unterschied von
anderen Gesellschaftsschichten zu markieren; es ist an
Hochmut reich, aber des Glaubens bar. Man glaubt nur
noch an irdische Dinge. Das Schicksal wurde vom Thron
gestoßen, die Polizei, mit den Attributen der Allmacht
und Allwissenheit ausgestattet, ist Schicksal geworden,
Staatsanwälte sind seine Heiligen und Unteroffiziere die
himmlischen Heerscharen. Unter solcher Führung wiegt
sich die stumpfe Masse in sorgloser Sicherheit; sie fürchten
nichts, als einzig den Tod; aber der ist weit hinaus,
sie sehen ihn nicht, denn sie leben für die Minute.

Für die Freiheit eintreten, dürfte in unseren Tagen
die vornehmste Aufgabe des Fürsten sein; denn jener
Enthusiasmus, mit welchem früher eine ganze Generation
für sie schwärmte, ist längst geschwunden, das Jnteresse
des großen gebildeten und des noch größeren unge-
bildeten Haufens ist lediglich für Materielles einge-
nommen, sie schämen sich beide der Anhänglichkeit
an ein ideales Gut.

Alle Selbstbestimmung fremdem Ermessen aus-
zuliefern, ist das Sicherste und Bequemste, wenn die
Herrscher so klug sind, Gewinnsucht und Genußsucht
nicht zu stören; und unsere Aeitgenossen sind — vielleicht
mit Recht — gegen sich selbst mißtrauisch, sie können
sich kaum vorstellen, daß man eine Freiheit wünsche,
ohne einen taktlosen Gebrauch von ihr machen zu wollen.

Lal» krea I?r6ssna, Heil freier Friese; kann man es
heutzutage noch glauben, daß ein solcher Gruß einst
im Ernst gesprochen wurde? —

Die wahre Freiheit ist nichts anderes als innere
Keuschheit; sie möchte gar nicht alles tun, was des Augen-
blickes Laune eingeben kann, sie ist nur eine zarte
Empfindlichkeit, welche durch ein jedes von außen
kommendes Gebot verletzt wird, weil sie weiß, daß sie
sich selbst gewissenhaft jede notwendige Beschränkung
auferlegt.

Freiheit ist ein Priestertum. Wer sie sich gewählt
hat, lebt am gebundensten, ihre Regel ist streng, wie
die Regel eines Mönchsordens. Sie setzt Bedürfnis-
losigkeit und eine vornehme Verachtung des Materiellen
voraus, damit sie für keinen fremden Schutz Dank
schuldig werden könnei

Vor allem aber bittet der Freie nicht, wie der Pöbel,
um Schutz gegen sich selber, denn er achtet beständig
auf seine Gelüste und Versuchungen und stählt seinen
Willen für und für. Seine Freiheit ist ihm, wie andern
ihr Reichtum, eine Fülle von Möglichkeiten, die er alle
auszukosten nicht der Mühe wert hält, obwohl er sie
sich nicht nehmen lassen will.

Der größte Segen aber, den er von seinem Jdeal
hat, ist, daß es ihn adelt. Eines Menschen Wert ent-
spricht genau dem Werte, den er auf seine persönliche
Freiheit legt; Freiheit ist ein durchaus aristokratischer
Begriff. Sie ist auch die einzige dauernde Grundlage
des Staates, der, man mag sagen, was man will, schließ-
lich doch nur eine Summe von Jndividuen ist. —

Der sogenannte Jmperalismus ist plebejisch und
vaterlandsfeindlich, denn das Vaterland ist nicht ein
Stück Territorium, auch kein gemeinsamer Wirtschafts-
betrieb, sondern eine Blutsgenossenschaft. —

Wenn die Ordnung aus einem Mittel zum Aweck
gemacht wird, wenn sie nicht mehr als Dienerin die
menschliche Fähigkeit hilfreich erleichtert, sondern einen
Teil dcr Fähigkeit rein für sich in Anspruch nimmt, dann
wird sie zu dem unangenehmsten aller Tyrannen.
Diese Tyrannei droht immer von den engen, logischen
Köpfen, welche nicht einzusehen vermögen, daß Ordnung
und Logik an sich weder Wert noch Eristenz besitzen,
sondern solche lediglich durch die Dinge oder Tätigkeiten
erhalten, auf die sie sich beziehen.

Dauer verheißt nur ein Geschlecht, welches an Muße
reich ist, und ich möchte wohl sehen, was von den Fa-
milien, die sich mit einer übermäßigen Kraftanstrengung
schnell emporgeschwungen haben, nach hundert Jahren
noch bleibt.

Ruhe, Gemütlichkeit und gemächliches Abwarten
bringen schließlich doch am weitesten, hingegen halte
ich beständige, intensive Anstrengung, die stets gespannte
Konzentration auf ein erstrebtes Ziel für demorali-
sierend, weil sie zur Entfaltung der wichtigsten Fähig-
keiten keinen Raum läßt.

Ja das Urteil selbst muß gefälscht werden; man muß,
um nicht eine Verschwendung der Lebenskraft zu be-
reuen, die nur auf die Erlangung äußerer Mittel ge-
richtet war, alles Käufliche überschätzen — und nicht nur
Geld ist ein Tauschmittel, sondern auch Rang und Name.

Die seruelle Prostitution ist nur ein Teil jener all-
gemeinen Prostitution, die unsere ganze Kultur durch-
dringt. Alle Männer sind Prostituierte, sie müssen
unkeusch fremde Überzeugungen umarmen, sich zu
schmählichen Liebesdiensten an diejenigen herandrängen,
die Vorteile zu vergeben haben — und diejenigen, die
sich anständige Frauen nennen — eine Straßendirne,
die nur ihren armseligen Körper verleiht, ist im Grunde
reiner als sie alle, Mann und Weib.
 
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