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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 5
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Aphorismen: aus Prinz Hamlets Briefen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0188

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Aphorismen.

Wirkliche Kullur ist der Takt des Herzens, der seine
Formen frei schafft, der sich mit Einfalt, aber nicht
mit Berechnung verträat.

Wir werden keine geistige Kultur haben, solange
das Lernen bloß der unmündigen Jugend zugeschoben
wird. Eigentlich sollte der Schulunterricht nur die Lust
und die Fähigkeiten geben, im späteren Alter fortwährend
zu lernen; gibt es doch nicht wenige Kenntnisse, für die
der Mensch erst ini Alter reif wird.

Der Sport muß, wenn er ein Erziehungsmittel
für den Charakter sein soll, mit Leidenschaft und ohne
schulmeisterliche Bedenklichkeit betrieben werden. Sein
Hauptreiz bleibe die Gefahr; denn Gefahr ist dem
Menschen nötig, auf daß er nicht entweder versaure
oder sich zu unnützen Händeln hinreißen lasse. Der
Jüngling, der seine Glieder wagt im Wettkampfe um
einen Eichenkranz, wird eher als andere begreifen, daß
der schönste Besitz eines christlichcn Volkes nicht Reich-
tum ist, sondern Ritterlichkeit. Und solchen Menschen
fällt innere Aufriedenheit bei freiwilliger Beschränkung
nach außen nicht schwer, welche Beschränkung den
größten Wert hat, wenn sie nicht von der Not erzwungen,
sondern von einem bescheidenen, einfachen Geschmacke
eingegeben ist; so verleiht sie einem ganzen Volke den
Schimmer der Vornehmheit. —

Müßten wir selbst einen großen Teil unserer tech-
nischen Errungenschaften opfern, so wäre die innere
Bewegungsfreiheit damit nicht zu teuer erkauft. Die
größte Gefahr unserer Kultur besteht in der Mechani-
sierung des Lebens, die schon sehr weit vorgeschritten
ist, und sonderbarerweise ganz entgegengesetzte Wir-
kungen hervorbringt: sie verhindert Kriege, weil diese
den geregelten Gang des Uhrwerks zu sehr stören, und
sie befördert Kriege, weil der Geist sich heraussehnt
aus dem Einerlei. Denn nichts ist brustbeklemmender
als das Gefühl, jede Minute eines siebzigjährigen Daseins
im voraus berechnen zu können. —

Eine unreife Kultur geht auf Ausdehnung aus, eine
reifere Kultur wird auf Bearenzung ausgehen, wovon
bereits in den zivilisierten Ländern sich Spuren zeigen.

Nachdem der Mensch einmal die Mittel gewonnen
hat, über den ganzen Erdkreis zu jagen, wird er frei-
willig aus den unbeschränkten Gebrauch dieser Mittel
verzichten, denn er wird einsehen, daß ihm sonst Ver-
flachung droht.

Der Mensch ist es seiner Selbstachtung schuldig,
sich nach Ort und Art zu bescheiden, damit ihm der
größte Teil der Welt genügend fremd bleibt, um ihn
noch zu interessieren; er muß, will er nicht zugrunde
gehen, sich seine Naivität bewahren oder im Notfall
sich eine künstliche Naivität schaffen, — ja, es ist so,
trotz aller Deklamationen unserer Propheten der Ent-
wicklung.

Das Cäsarentum, dem die Souveränität, wie es
mir scheint, jetzt immer mehr entgegensteuert, mag ein
Unteroffiziersgemüt für erstrebenswert halten; aber
ein tieferer Mensch muß wahnsinnig werden, wenn er

diese übermenschliche Machtfülle in seinen Händen weiß
und sich dabei doch so machtlos und so furchtbar sterb-
lich sieht. —

Das richtige Vaterlandsgefühl ist nichts als un-
bewußte Ahnenverehrung, darum auch nur möglich
in einer Gemeinschaft, welche ein gewisses Alter und
gewisse aristokratische Überlieferungen besitzt. —

Das einzig Große ist, was wir nicht wissen. —

Vornehmheit besteht darin, das Materielle entweder
zu verachten, oder als eine selbstverständliche Voraus-
setzung hinzunehmen.

Es fiel mir schwer aufs Herz, daß die Erde dem
Menschen bald nichts Neues mehr zu bietcn vermag.
Sie wird von Jahr zu Jahr ärnier an Reizen und Ge-
heimnissen, und wenn erst alles Festland der Aivili-
sation unterworfen sein wird, dann wird es weder
Abwechslung noch Uberraschungen, vor alleni aber
keine Entfernungen mehr geben, wie wir ja heute
schon in mächtigen Reichen keine Tagesreise mehr machen
können, ohne die Grenze zu überschreiten. Der Raum,
nämlich der erreichbare Raum, wird Null werden, was
aber eine Meile über oder unter unserem Erdboden liegt,
bleibt uns so unerreichbar wie zuvor. Dieser von der
Entwicklung der Technik hervorgerufene Austand kann
aber nicht von Dauer sein, der Mensch, alles Neuen,
Unberechenbaren und Geheimnisvollen beraubt, müßte
in Schwindel und Ohnmacht versinken wie in einer
dünnen Luft. ^— Aus dieser Gefahr kann er, so glaube
ich, nur auf zwei Wegen gerettet werden: entweder
seine Kultur ändert sich so, daß sie wieder nüt engen,
aber festen Grenzen des Daseins und der Erkenntnis
vorlieb nimmt, odcr sein Blick muß allmählich wieder in
neue Geheimnisse reichen, in jene Gebiete, die wir heute
übersinnlich nennen und für unzugänglich halten. —
Jch glaube an diese letztere, schönere Möglichkeit, näm-
lich, daß die Natur sich vorgesetzt hätte, unsere Ahnungen,
Wahrnehmungen und Kenntnisse über die früheren
Grenzen zu erweitern und es deshalb zuließ, daß inner-
halb dieser Grenzen alles ausgerottet wurde, was die
Phantasie, die Wißbegier, überhaupt irgend ein Jnteresse
des Gemütes beschäftigen konnte. — Dann würde die
geistige Weiterentwicklung der Menschheit in diejenige
Richtung gehen, welche die okkulten Wissenschaften
bezeichnen. Wir werden neue Fähigkeiten des Geistes
kennen lernen, deren Vorhandensein zu ahnen sich
nur mutige Phantasten getrauten; wir werden über-
raschende Blicke in das Universum tun; wir werden, was
wir im Traum verloren haben, tausendfach wieder-
gewinnen durch eine vielleicht bis in die Gefilde des
Unendlichen sich erstreckende Beherrschung der Aeit. —
Wie aber wird diese Vervollkommnung vor sich gehen?
Vielleicht wird das Unbewußte unseres Seelenlebens
mehr in die Sphäre des Bewußtseins kommen, die
Wirkungen von Personen zu Personen, über Raum
und Zeit hinweg, werden eine neue Ausdehnung ge-
winnen; wir werden Leben um uns erkennen, das wir
bisher mit unseren groben Sinnen nicht wahrnehmen
konnten, und dadurch wird die Erde wieder größer
werden.
 
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