Auf S. S. Rhowedder.
Aus Molkenbuhrs Reich geht es direkt in den hinteren
Laderaum und von da nach dem Gang, der mittschiffs
zu beiden Seiten der Maschine entlang läuft. An diesem
Gange liegen die Kabinen der Maschinisten. Man klemmt
sich auf der Backbordseite durch die Eisentür des Lade-
raums, die zugleich als Schott dient bei Zusammen-
stößen, hindurch und guckt bei der dritten Kabine durch
die nicht ganz geschlossene Jalousie.
Hier liegt Langbehn, der Elektriker. Langbehn ist
verlobt. Mit einer kleinen Putzmacherin, die er sechs
Wochen vor der Abreise kennen gelernt hatte. Wir sind
nun bald ein halbes Jahr fort, aber Langbehn weiß
immer noch nicht, ob es vielleicht eine Dummheit war.
Sie gingen aus. Fast jeden Tag. Seeleute am Land
sind anders wie wir. Sie nahm es höllisch ernst. Und
ihre Eltern auch. Mit dem Schreiben war sie peinlich
pünktlich. Was soll Langbehn tun? Sie ist ein sauberes
Ding. Kein Gedanke, daß sie ihm untreu wird. Aber er?
Wo war er nicht gewesen in Viktoria und Montevideo?
Und bei der kleinen Schwarzen in Bahia? Und hat er
nicht geglaubt, darin müsse es zuerst sich zeigen? Abends
wenn die andern hinwegschlüpften, daß man sich dann
seine Kalkpfeife anzündete und hinsetzte und dahindächte,
wo sie nun gerade wohnt? Sei es in Stubbenhuk oder
in Eilbek? Aber er... Die Sonne stiehlt sich durch
einen Spalt auf Langbehns Sofa. Die Hitze läßt nicht
nach, obschon es auf vier Uhr geht, und obschon der kleine
elektrische Windkühler auf dem Nachttische sich schnurren-
den Tones und in rasender Eile dreht. Die Hitze ist hier
anders als oben, wo Willem Hark noch immer schläft.
Die Hitze ist hier mit Ol- und Holz- und Farbengeruch
vermischt und mit dem Duft, der in allen Seeschiffen
schwingt, den man nicht definieren kann, der aber manche
Leute krank macht, wenn das Schiff noch am Kai liegt.
* *
*
Vorn liegt ungeschützt die Back. Hier hausen die
Matrosen und Feuerleute. Von der Back niüssen
wir schweigen. Höchstens die Postkarten dürfen wir
erwähnen, die reihenweise über den Kojen angeheftet
sind. Sie enthalten einige unflätige Bilder, meistens
aber schlechte Photographien von Soubretten und Tingel-
Tangel-Mädels aus St. Pauli oder vom Schiedamerweg.
Wenn nun eine Wolke käme wie ein Horn und ich
könnte mich auf sie setzen und S. S. Rhowedder sehen,
von weitem durch die Sonne gleiten. Die Umrisse des
Ganzen würden zittern, als ob man im August über die
Heide sieht. Und ich würde genau sehen, wie aus Molken-
buhrs Kammer und von Willem Hark und von diesem
und jenem und allen überhaupt die kleinen blassen Wölk-
lein aufsteigen, schlängelnd und mit einer Kraft der
Sehnsucht weit wegstrebend nach Frauenhaftem und nach
weicher warmer Beruhigung. Gar nicht grob immer.
Mancher von diesen würde sich freuen, wenn er nur ein
Kleid sähe von fern über das Deck huschen, einmal am
Tage. Nur was von den Kojen der Back aufsteigt, das
sind keine blassen Wolken mehr.
Awischen diesem heißen Dunst der Leiber und Sinne
aber schläft ein Knabe. Einer von vierzehn Jahren. Er hat
seinen Lehrer verprügelt, irgendwo in Thüringen. Er
ist geschaßt und seine Eltern bestimmten ihn zum Schiffs-
jungen. Er ist groß und ein wenig zu hastig. Jch kenne
ihn ziemlich gut. Es ist ein köstlicher Junge, aber ganz
anders als der kleine Humboldt. Dies ist seine erste
Reise. Niemand kann ihm etwas anhaben. Aller
Schmutz gleitet an ihm vorüber. Er traumt jetzt von
seiner Schwester und von Oberhof, und wenn er erst
wieder mit seinem Silberzeug essen darf, das in seiner
Kiste steckt und das er hier garnicht gebrauchen konnte.
Wie gesagt, er ist vierzehn Jahre. Jn dem Briefe, den
er von drüben an seine Mutter schrieb, stand folgendes:
„... Wir waren auch in einem Lokal, wo Mädchen be-
dienten oder Frauen. Du glaubst nicht, Mutter, wie
liebenswürdig sie zu uns waren. Freilich manchmal
direkt dreist. Au mir waren sie besonders nett. Wir
kannten sie gar nicht, stießen aber an mit ihnen und
sagten alle Du. Denk mal an! Leider hatte ich den
Abend Wache. Sonst wäre ich länger geblieben..."
>»- *
*
Eben tritt der Kapitän aus seinem Gehäuse und sieht
nach Nordost, ob nicht etwa eine Passatwolke in Sicht
ist. Aber alles ist blank wie sonst und schwimmt in Hitze...
Welch ein Gedanke, daß der Eisenmantel von S. S. Rho-
wedder überall so heiß ist, daß man nicht mit dem Finger
an ihn rühren kann... Wollen die Schrauben nicht auf-
hören, nur eine Minute lang?... Nein, die Pumpen
klappern wie sonst... Ganz vorn am Bug spritzt es ab
und zu ein ganz klein wenig auf.
Wenn doch ein Wind käme. Plötzlich, wie sie manchmal
kommen auf dem Wasser. Ein heimatloser Wind, ein
kalter, ein ungesunder Wind. Kein manierlicher, wie er
bei Bellevue die weißen Segel der Alstergiggs bläht.
Wenn doch eine Wolke plötzlich aufschösse und wenn es
doch regnete. Beim Barte des Schiffszinnnermanns!
Wind und Regen müßten in die Back. Aahlmeister
Molkenbuhr müßte so naß und kalt werden, daß er
klappernd neben den Schornstein flüchtete. Wenn
doch Schnee käme und soviel Frost, daß Köhns Bart zu
Eiskringeln würde...
Aber es kommt garnichts. Der Kapitän tritt zurück,
die Jalousie knarrt hernieder. Es ist still wie sonst.
Selbst die Katze hat es aufgegeben und schleicht müde
an Willem Hark vorbei auf ihr Lager.
leine Aufsähe über Musik.
9. Melodie und Kontrapunkt. - Musik-
grschichtlichcS II.
Der kontrapunktische Stil ist der gesteigert melodische
Stil, man könnte ihn gewissermaßen als die höchste Stufe
der Melodik ansehen; in der Mitte stünde dann die freie,
begleitete Melodie, zu unterst die Melodie, welche sich
an der Harmonie festhält oder von ihr festgehalten wird
und, so oder so, nicht loskommt, die mit der Harmonie
verwachsene Melodie. Beispiele für die letztere Art
bieten zahlreiche choralmäßige Melodien, soweit sie eben
nicht kontrapunktisch bearbeitet sind. Jch erwahne des
schönen altfranzösischen Tanzchors Lsllo c;ni tiens nrn
vio. Eine gleichförmig bewegte harmonische Masse, deren
jeweilige Oberflächen eben die Melodie;chritte bilden.
Nur ein schwaches Dammern von melodischer Freiheit,
r?»
Aus Molkenbuhrs Reich geht es direkt in den hinteren
Laderaum und von da nach dem Gang, der mittschiffs
zu beiden Seiten der Maschine entlang läuft. An diesem
Gange liegen die Kabinen der Maschinisten. Man klemmt
sich auf der Backbordseite durch die Eisentür des Lade-
raums, die zugleich als Schott dient bei Zusammen-
stößen, hindurch und guckt bei der dritten Kabine durch
die nicht ganz geschlossene Jalousie.
Hier liegt Langbehn, der Elektriker. Langbehn ist
verlobt. Mit einer kleinen Putzmacherin, die er sechs
Wochen vor der Abreise kennen gelernt hatte. Wir sind
nun bald ein halbes Jahr fort, aber Langbehn weiß
immer noch nicht, ob es vielleicht eine Dummheit war.
Sie gingen aus. Fast jeden Tag. Seeleute am Land
sind anders wie wir. Sie nahm es höllisch ernst. Und
ihre Eltern auch. Mit dem Schreiben war sie peinlich
pünktlich. Was soll Langbehn tun? Sie ist ein sauberes
Ding. Kein Gedanke, daß sie ihm untreu wird. Aber er?
Wo war er nicht gewesen in Viktoria und Montevideo?
Und bei der kleinen Schwarzen in Bahia? Und hat er
nicht geglaubt, darin müsse es zuerst sich zeigen? Abends
wenn die andern hinwegschlüpften, daß man sich dann
seine Kalkpfeife anzündete und hinsetzte und dahindächte,
wo sie nun gerade wohnt? Sei es in Stubbenhuk oder
in Eilbek? Aber er... Die Sonne stiehlt sich durch
einen Spalt auf Langbehns Sofa. Die Hitze läßt nicht
nach, obschon es auf vier Uhr geht, und obschon der kleine
elektrische Windkühler auf dem Nachttische sich schnurren-
den Tones und in rasender Eile dreht. Die Hitze ist hier
anders als oben, wo Willem Hark noch immer schläft.
Die Hitze ist hier mit Ol- und Holz- und Farbengeruch
vermischt und mit dem Duft, der in allen Seeschiffen
schwingt, den man nicht definieren kann, der aber manche
Leute krank macht, wenn das Schiff noch am Kai liegt.
* *
*
Vorn liegt ungeschützt die Back. Hier hausen die
Matrosen und Feuerleute. Von der Back niüssen
wir schweigen. Höchstens die Postkarten dürfen wir
erwähnen, die reihenweise über den Kojen angeheftet
sind. Sie enthalten einige unflätige Bilder, meistens
aber schlechte Photographien von Soubretten und Tingel-
Tangel-Mädels aus St. Pauli oder vom Schiedamerweg.
Wenn nun eine Wolke käme wie ein Horn und ich
könnte mich auf sie setzen und S. S. Rhowedder sehen,
von weitem durch die Sonne gleiten. Die Umrisse des
Ganzen würden zittern, als ob man im August über die
Heide sieht. Und ich würde genau sehen, wie aus Molken-
buhrs Kammer und von Willem Hark und von diesem
und jenem und allen überhaupt die kleinen blassen Wölk-
lein aufsteigen, schlängelnd und mit einer Kraft der
Sehnsucht weit wegstrebend nach Frauenhaftem und nach
weicher warmer Beruhigung. Gar nicht grob immer.
Mancher von diesen würde sich freuen, wenn er nur ein
Kleid sähe von fern über das Deck huschen, einmal am
Tage. Nur was von den Kojen der Back aufsteigt, das
sind keine blassen Wolken mehr.
Awischen diesem heißen Dunst der Leiber und Sinne
aber schläft ein Knabe. Einer von vierzehn Jahren. Er hat
seinen Lehrer verprügelt, irgendwo in Thüringen. Er
ist geschaßt und seine Eltern bestimmten ihn zum Schiffs-
jungen. Er ist groß und ein wenig zu hastig. Jch kenne
ihn ziemlich gut. Es ist ein köstlicher Junge, aber ganz
anders als der kleine Humboldt. Dies ist seine erste
Reise. Niemand kann ihm etwas anhaben. Aller
Schmutz gleitet an ihm vorüber. Er traumt jetzt von
seiner Schwester und von Oberhof, und wenn er erst
wieder mit seinem Silberzeug essen darf, das in seiner
Kiste steckt und das er hier garnicht gebrauchen konnte.
Wie gesagt, er ist vierzehn Jahre. Jn dem Briefe, den
er von drüben an seine Mutter schrieb, stand folgendes:
„... Wir waren auch in einem Lokal, wo Mädchen be-
dienten oder Frauen. Du glaubst nicht, Mutter, wie
liebenswürdig sie zu uns waren. Freilich manchmal
direkt dreist. Au mir waren sie besonders nett. Wir
kannten sie gar nicht, stießen aber an mit ihnen und
sagten alle Du. Denk mal an! Leider hatte ich den
Abend Wache. Sonst wäre ich länger geblieben..."
>»- *
*
Eben tritt der Kapitän aus seinem Gehäuse und sieht
nach Nordost, ob nicht etwa eine Passatwolke in Sicht
ist. Aber alles ist blank wie sonst und schwimmt in Hitze...
Welch ein Gedanke, daß der Eisenmantel von S. S. Rho-
wedder überall so heiß ist, daß man nicht mit dem Finger
an ihn rühren kann... Wollen die Schrauben nicht auf-
hören, nur eine Minute lang?... Nein, die Pumpen
klappern wie sonst... Ganz vorn am Bug spritzt es ab
und zu ein ganz klein wenig auf.
Wenn doch ein Wind käme. Plötzlich, wie sie manchmal
kommen auf dem Wasser. Ein heimatloser Wind, ein
kalter, ein ungesunder Wind. Kein manierlicher, wie er
bei Bellevue die weißen Segel der Alstergiggs bläht.
Wenn doch eine Wolke plötzlich aufschösse und wenn es
doch regnete. Beim Barte des Schiffszinnnermanns!
Wind und Regen müßten in die Back. Aahlmeister
Molkenbuhr müßte so naß und kalt werden, daß er
klappernd neben den Schornstein flüchtete. Wenn
doch Schnee käme und soviel Frost, daß Köhns Bart zu
Eiskringeln würde...
Aber es kommt garnichts. Der Kapitän tritt zurück,
die Jalousie knarrt hernieder. Es ist still wie sonst.
Selbst die Katze hat es aufgegeben und schleicht müde
an Willem Hark vorbei auf ihr Lager.
leine Aufsähe über Musik.
9. Melodie und Kontrapunkt. - Musik-
grschichtlichcS II.
Der kontrapunktische Stil ist der gesteigert melodische
Stil, man könnte ihn gewissermaßen als die höchste Stufe
der Melodik ansehen; in der Mitte stünde dann die freie,
begleitete Melodie, zu unterst die Melodie, welche sich
an der Harmonie festhält oder von ihr festgehalten wird
und, so oder so, nicht loskommt, die mit der Harmonie
verwachsene Melodie. Beispiele für die letztere Art
bieten zahlreiche choralmäßige Melodien, soweit sie eben
nicht kontrapunktisch bearbeitet sind. Jch erwahne des
schönen altfranzösischen Tanzchors Lsllo c;ni tiens nrn
vio. Eine gleichförmig bewegte harmonische Masse, deren
jeweilige Oberflächen eben die Melodie;chritte bilden.
Nur ein schwaches Dammern von melodischer Freiheit,
r?»