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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 10
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[Notizen und Buchbesprechungen]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0388

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us Stcndhal.

Stendhal erzählt in seinem schönen Buch von der Liebe
eine ebenso einfache wie schauervolle und tragische Geschichte, die
von einer Gräfin und von einem jungen Pagen handelt, die sick
lieben, weil sie ein süßes Gefallen aneinander finden. Der Graf
ist eine finstere, schrecknisversprechende Figur. Die Liebesgeschichte
spielt in Südfrankreich. Jch stelle mir Südfrankreich reich an mittel:
alterlichen Burgerp Kastellen und Schlössern vor, und die Luft
träumt und lispelt dort von holder, Heimlichep schwermütiger Liebe.
Cs ist ziemlich lange her, daß ich die Geschichte gelesen habe, die
in einem sondcrbaren altmodischen naiven Französisch geschrieben
ist, welches rauh und lieblich zugleich klingt. Auch die Sitten
müssen damals rauh und dennoch schön gewesen sein. Da sehen sie
sich also an, die Frau und der Edelknabe, und so gewöhnen sich
ihre Augen aneinander. Sie lächeln, wenn sich ihre Blicke begegnen,
und doch kennen Beide wobl die grausame barbarische Gefahr, in
die sie sich begeben, wenn sie glücklich sind im gegenseitigen Wohl-
gefallen. Der junge Mann singt so schön, da bittet sie ihn, etwas
zu singen, und er tut es, er greift zum Jnstrument, das er mit
Grazie zu handhaben weiß, und singt ein Liebeslied dazu, und sie
lauscht ihm, sie lauscht seinen Tönen. Jhr Gatte ist ein Liebhaber
der Jagd und der wilden Raufereien. Händel und Krieg inter-
essieren ihn mehr als die Lippen der Frau, die der milden wonnigen
Mainacht an Schönheit gleicht. So begegnen sich denn eines Tages,
zu gegebener Stunde, die Lippen des jungen Edelknechtes und
der schönen Frau, und das Ergebnis dieser reizenden Begegnung
ist ein langcr, heißer, wilder, süßer, herrlicher Kuß, an dessen
Wonne die Beiden zu sterben wünschen. Das Gesicht der Gräfin
ist mit einer heiligen, entsetzlichen Blässe bedeckt, und in ihren
großen dunklen Augcn flammt und lodert ein verzehrendes Feuer,
das mit dem Himmel und mit der Hölls verwandt ist. Doch sie
lächelt ein seliges, überglückliches Lächeln, das einer duftenden,
träumerischen Blüte gleicht. Iu bedenken ist, daß diese Frau,
indem sie am Kusse hängt, zum Tod entschlossen ist, da der Graf,
ihr Gemahl, ein schrecklicher Mann ist, von dem sie weiß, daß er
tötet, wenn er in Aorn gerät. Auf wie hohe Art liebt sie, wenn
sie liebt, wo sie weiß, daß die Liebe ihr das Leben kostet, wenn es
auskommt, was nicht auskommen soll, was aber so leicht aus-
kommen kann. Auch das Leben des Geliebten hängt an einem
Haar, wo er sich dem Vergnügen des Kusses hingibt, woraus not-
wendig folgt, daß es ein Vergnügen hoher Ärt ist, das er kostet.
Der Liebende und die Liebende sind beide gleich kühn, gleich ent-
schlossen zum Außersten, aber sie genießen dafür auch das Höchste.
Sie erleben den Gipfel des Lebens, da sie spielen mit ihrem Leben,
und nur so ist es möglich, den Gipfel zu erreichen. Wo das Leben
nie in Gefahr ist, gibt es nie eine Beseligung eben dieses Lebens.

Robert Walser.

cndenz in der Kunft.

Von vornherein ist nachdrücklich zu betonen, dnß die ten-
denziöse Kunst niemals mehr als eine untergeordnete Stellung
einnehmen kann und will. Wenn man Tendenz als bewußten
Zweck außerhalb des Kunstwerkes ansieht und der Kunst an sich im
höchsten Sinnc Iwecklosigkeit zuerkennt, so ist damit schon der Be-
weis für diese Behauptung erbracht. Kein Mensch würde das Mond-
lied und das „LrM kib>s.rnris" Goethes unter einem Gattungs-
begriff vereinigen. Das erste hat die Zwecklosigkeit der reinen Kunst,
es stellt nur dar und gewährt unsern Energieen eine Beschäftigung,
die lauter Genuß ist (nach Dilthey); das zweite dagegen enthält
einen Zweck, der über die ästhetische Lust hinausgeht, es fordert
zum Trinken auf und wendet sich so an den Willen des Lesers.
Jedes Kunstwerk, das auf den Willen des Genießers einzuwirken
fucht, sci es positiv durch Belehrung oder Empfehlung, sei es
negativ durch Entrüstung oder Abschreckung, muß tendenziös
genannt werden. Ob der Künstler selbst die Rolle des Äuffordernden
übernimmt (wie Goethe im Lrgo kiksirnrs), ob er andere für sich
sprechen läßt und die Tendenz nur durch die Art der Schilderung
andeutet (wie Jbsen in den Gespenstern), ist dabei belanglos; die
Willenserregungen können ganz die gleichen sein. Gewöhnlich
sind sie je stärker, je geschickter die Tendenz objektiviert wird; so
übertreffen z. B. die Evangelien alle sonstigen Stücke des Neuen
Testamcnts an Wucht der Unmittelbarkeit, weil die Verfasser
ihre Lehre einem gemeinsamen, gottgleichen Religionsstifter in
den Mund legen und durch Verkettung mit seinen äußeren Schick-
salen so wundervoll verlebendigen. Fn der Bibel haben wir über-
haupt die htchste Stufe der Tendenzdichtung.

„Tendenzkunst ist keine reine Kunst." Also widerspricht sie
dem Wesen der Kunst? Also hat sie eigentlick keine Berechtigung?
fragt man sich unwillkürlich. Das wäre logisch gefolgert, wenn sich
nachweisen ließe, daß alle Kunst rein sein und das Gesetz der
Zwecklosigkeit erfüllen müßte. Aber niemand wird imstande sein,
diesen Beweis zu erbringsn, und wir brauchen deshalb die Be-
rechtigung der Tendenzkunst nicht anzuzweifeln, zumal da ihre
Möglichkeit psychologisch gegeben ist, wie Erfahrung und Geschichte
lehren. Auf weniger festen Boden führt uns erst die Frage: Wo
fängt sie an und wo hört sie auf, berechtigt zu sein? Wie weit ist
das Gebiet, das sie umspannt? Welche Eigenschaften muß ein
Tendenzwerk haben, um vor jedem Urteil zu bestehen? — Daß
ein Berufener, ein echter Künstler dahinter stecke, daß es von Kunst
durchglüht und nach den Gesetzen der Kunst geschaffeu sei, ist natür-
lich Voraussetzung, und ebenso unerläßlich ist es, daß ihm ein
inneres Erlebnis zur Geburt verhelfe, nicht etwa eine vom Ver-
stand gestellte Aufgabe. Auch das Tendenzwerk muß in erster Linie
Kunstwerk sein wollen und hat demnach sein Hauptproblem
in der formal-künstlerischen Bewältigung der äußeren Zwecke zu
suchen. Je unaufdringlicher diese bearbeitet werden, je beziehungs-
loser sie erscheinen, je mehr der Künstler das Gestalten dem Predigen
vorzieht, um so höher der ästhetische Wert seincs Werkes. Ein
Musterbeispiel dafür ist Josef Ruederers „Ein Verrückter", ein
Tendenzroman von vorbildlicher Objektivität der Darstellung.

Wie die formalen Bedingungen, so auch die inhaltlichen. Der
Tendenzkünstler hat bei der Wahl des Stoffes durchaus die Freiheit,
die ihm die Kunstgesehe gewähren, und ist nicht an rein ethische
Zwecke gebunden. Zwischen einem künstlerisch ausgeführten
Plakat und einem patriotischen Liede besteht kein Gattungsunter-
schied, denn ihre Zwecke lassen sich auf denselben Nenner zurück-
führen, auf die Willensbeeinflussung, und damit sind sie im ab-
soluten Sinne gleichberechtigt. Gleichberecbtigt, aber nicht gleich-
bewertet. Es wird wohl kaum einem Menschen sckwer fallen
zu sagen, warum ein Zigaretten- oder Hutfirmenplakat, wie
künstlerisch es auch imnwr ausgeführt sei, hinter einer Vaterlands-
httmne von Björnson oder Gottfried Keller an „biologiscbem"
Wert zurückbleibt: es ist die Art der Tendenz, die den Äusschlag
gibt. llnd nach ihrer Art sind die Tendenzen noch nicht einmal
gleichberechtigt. Niemand wird einem Sauflied oder einem
obszönen Bilde selbst unter den oben genannten Voraussetzungen
wirklichen Wert zugestehen, niemand wird Cintagstendenz gegen
Ewigkeitstendenz ausspielen, niemand wird die Kluft übersehen,
die den materiellen Zweck vom ideellen trennt. Da sich die Tendenz-
kunst zu einem guten Teile an den Willen wendet, muß sies ge-
schehen lassen, daß man sie auch von diesem Gesichtspunkt beurteile
und ihren Jnhalt einer ebenso strengen Prüfung unterziehe wie
ihre Form. Eine Tendenz, die den höchsten Ansprüchen genügen
soll, muß ganz bestimmte Eigenschaften haben, sie muß tief und groß
genug sein, um als allgemein-menschlich gelten zu können, sie muß
sich vom Iufälligen, Willkürlichen und zeitlich Bedingten möglichst
frei machen, d. h. sie muß normativen Charakter tragen; sie muß
sich also auf dem Grunde des Bleibenden verankern. Nur eine solche,
ethische Tendenz verdient ernsthafte Erörterung, weil sie erst
in den Strom der Kultur hinabtaucht und dadurch befähigt wird,
tatsächliche Werte für die Menschheit zu schaffen oder zu verbreiten.
Wer sie meistert und mit seinem Künstlergenius wirksam durch-
dringt, der schenkt der Welt Jdeale und zwingt die Menschen in
den Bann der Kulturbestrebungen, denen er seine Schöpfergabe
unterstellt. Das tat Äschylos, als er seine Orestie dichtete, das
tat Raffael, als er die Siptina zum Preis der katholischen Kirche
ausmalte, das tat Bach, als er seine Motetten und Kantaten Lem
Protestantismus weihte. Diese wenigen Beispiele veranschaulichen
nicht allein die gewaltige Bedeutung der tendenziösen Kunst aufs
beste, sondern sie zeigen zugleich, in welchem Maße die einzelnen
Kunstzweige Tendenz in sich aufnehmen können. Die Musik ist
an sich natürlich ganz losgelöst von allen außerhalb ihres Weges
liegenden Iwecken, da sie sich nur an das Gefühl wendet; sie wird
erst dann relativ tendenziös, wenn das Wort hinzutritt.

Zum Schluß noch eine psnckologiscke Bemerkung, die wieder
zurückgreift auf den eingangs behandelten Gegcnsatz zwischen
zwecklöser und zweckhafter Kunst. Wir stehen jetzt nämlich vor dem
Dilemma: kann die Derbindung von Kunst und Ctkik für einen
oder beide Teile schädlich werden? Muß nicht die Kunst unter dem
Cinerseits-Andrerseits der ethischen und ästhetiscken Wertung
leiden? Droht nicht die Gefahr, daß die Ethik bei diesem Bund
schlecht abschneide und verflache? Die Gefahr droht allerdings.
Ethik strebt immer nach Verwirklichung, während es gerade die
 
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