Wctor Aubertiiu Skizzsn.
Als Dante am Paradiese ankam, führte er Beatricen
leise an der Hand. Da sah er nichts als das Licht ihrer
Augen und das Schreiten ihrer florentinischen Füße über
die Perlmuttergefilde der Seligkeit. Und deshalb be-
merkte er es nicht, daß auch über der Paradiesestür eine
Jnschrift stand; eine.Jnschrift, die da lautcte: Dasoiatv
oZni voi olr' oittruto.
Das Haus der nackten Frau.
Eö war nun nicht mehr zu vcrkenncn, daß ich mich in
den engen Straßen Venedigs verirt hatte. Die Mittags-
stille stand über der Stadt, und seit zehn Minuten war
ich keinem Menschen mehr begegnet. Jch kam durch ganz
schmale Gassen, dann über brcitere Salizzaden und machte
schließlich auf einem kleinen Platz HM- Dort war
ein marmorner Brunnen, auf dessen Rand ich niich setzte.
Jn der Fcrne sang ein Verkäufer seinen langen Ruf,
ein Glockengeläut verhallte, und irgendwo spielte auf
einem Cello jemand die tote Strophe dieser verlorenen
Stadt. Und wie ich aufblickte, sah ich an einem offenen
Fenster mir gegenüber eine nackte Frau stehen.
Sie stand aufrecht, sah mich an und zeigte mir ihre
Brüste. Dabei lächelte sie nicht und winkte auch nicht,
wie eö die Art leichtsinniger Frauen ist, sondern sah ernst
und still auf mich hin. Jch stand auf und ging auf das
Haus zu. Und auch in nieincm Herzen war es ganz
ernst und still, als ich die Klinke ihrer Türe drückte.
Nachher, als ich wieder heraustrat, sah ich nnch noch
einmal nach ihrem Hause um. Und da bemerkte ich crst,
was ich vorhin nicht gesehen hatte, daß nämlich jenes
merkwürdige Greifensymbol auch an der Wand diescs
Hauses angebracht war. Es ist das ein rundes Reliefbild-
werk und stellt den Vogeldrachcn Greif dar, der einen
Menschen oder auch ein Tier gepackt hat und seine Ein-
geweide wühlend zerreißt.
Man sieht dieses Bildwerk an den alten Palästen des
Großen Kanales hier und da, auch an der Markuskirche.
Aber nirgendwo war es mir so klar und so schön erschienen
wie an diesem Hause. Und ich setzte mich auf den Vcarmor-
rand des Brunnens und zeichnete es in mein Buch.
DaS Sonett.
Jch hatte das alte italienische Sonett zu Ende gelesen.
Schaudernd schloß ich die Augen und lehnte mich im
Stuhle zurück. Dann gab ich das Buch dem Professor
zurück und sagte:
„Das ist das Keuschste und Heiligste, was ich je las. Es
ist wie der Gesang eines ganz jungen Engels vor Gottes
Thron; eines jungen Engels, der zum crsten Male die
goldenen Saiten der großcn Harfe grcifen darf. Zögernd
und doch voll Auversicht. Welch Minnesänger hat dieses
Lied auf die reinste Frau geschrieben?"
Der Professor antwortete mir: „Dieses Gedicht wurde
von dem Hofpoeten der Gonzaga geschrieben, als cr
wegen Wuchers im Gefängnis saß. Er schrieb cs auf
die venerische Maitresse seines Fürsten und hoffte dafür
die Freiheit zu bekommen. Die Freiheit erhielt er nun
zwar nicht, aber man schickte ihm als Dank einen kalten
Kapaunenbraten ins Gefängnis. Und auch damit war
er immerhin zufrieden."
In ?sne, 8uk pLne. . .
Das war ein gar strahlender Sonnenausgang, der
über der Mechelheide leuchtete am Morgen des Schlacht-
tages. Der helle Oktoberhimmel war wie Glas, die
Hügel der Ferne leuchteten, und als die Lutherischen auf
das Feld rückten, wo die Katholischen in Reih und Glied
schon warteten, da blitzten alle Speerspitzen wie die
Tropfen eines Wasserfalles.
Es galt aber eine große Sache; es galt auszufechten,
in welcher Art die Person Christi m dem Brot des Abend-
mahles vorhanden sei; ob sich das Brot ganz in das
Wesen Gottes verwandelt habe, wie es die Katholischen
meinten; oder ob die Person Christi nur im Brote und
unter deni Brote stecke, wie es der Doktor Luther in
Wittenberg gelehrt hatte. Das niußte jetzt ausgefochtcn
werden zwischen allen diesen Männcrn.
Und als die Trompctcn schmettertcn, da klang es wie
Kirmesmusik am Sonntage; denn wirklich war es ja
Sonntag heut, und in den fernen Dörfern rüstete man
schon den Tanz. Und die zwölf Grafen und Fürsten,
die an der Spitze der Lutherischen ritten, wiegten sich
festtäglich ini Sattel im Rhythnius des kurzen englischen
Trabes.
Hie Kelch, hie Transsubstantiation.
Am Abend aber kroch dcr erkaltende Rauch der Artillerie
die Hügel entlang, und das Schlachtfeld verstummte.
Und da lagen die zwölf Grafen der Lutherischen tot
im Grase; alles junges Blut dcr besten nassauischen
Häuser; und waren in Reihen ncbcneinandergelegt,
wie nian nach der Jagd die Fasancn zur Strecke legt.
Ein Bentheim, ein Solms, zwei aus dem großen
Hause Oranien, die vier Söhne und letzten Erben des
Stanimes Prynn.
Der jüngste der Prynn hatte einen Stückschuß ins
Gesicht bekommen, dcr dcn Untcrkiefcr weggerissen
hatte. Nur die Aunge war geblieben und streckte
sich gerade, wie ein langer Aapfcn, aus der Wunde
hervor.
Aus seinem Halstuch aber hing ein Medaillon herauö
mit dem sauberen Miniaturbilde eines lachenden Mad-
chens. Und um das Bild heruni lief eine Jnschrift, die
lautete: „Na vis oki mg, Uoulos vio".
leine Aufsähe über Musik.
8. Musikgeschichtliches.
Jch erwähnte in der vorhergehenden Nummer cinc
der großen Entdeckungen Beethovens; dieseni Gegen-
stand möchte ich nun noch etwas weiter nachgehen.
Jch meine die harmonische Struktur des Anfangs der
Waldsteinsonate, dic ich in dcm jüngst von mir ange-
führten Aufsatz in dem Wickersdorfer Jahrbuch II als
Beethovens geistige Tat behandelt habe. Die Harmonic-
gänge zu Anfang der vielgespieltcn 6-LloII-Fantasie
von Mozart hätte ich an dieser Stelle als nur scheinbar
ähnlich, als aus wesentlich anderer Gesinnung erzeugt und
als von anderer Eigenschaft und Wirkung aufzuzeigen
wohlgetan; die Errungenschaft Beethovens wird nämlich
nicht etwa schwächer, sondern im Gegenteil größer,
212
Als Dante am Paradiese ankam, führte er Beatricen
leise an der Hand. Da sah er nichts als das Licht ihrer
Augen und das Schreiten ihrer florentinischen Füße über
die Perlmuttergefilde der Seligkeit. Und deshalb be-
merkte er es nicht, daß auch über der Paradiesestür eine
Jnschrift stand; eine.Jnschrift, die da lautcte: Dasoiatv
oZni voi olr' oittruto.
Das Haus der nackten Frau.
Eö war nun nicht mehr zu vcrkenncn, daß ich mich in
den engen Straßen Venedigs verirt hatte. Die Mittags-
stille stand über der Stadt, und seit zehn Minuten war
ich keinem Menschen mehr begegnet. Jch kam durch ganz
schmale Gassen, dann über brcitere Salizzaden und machte
schließlich auf einem kleinen Platz HM- Dort war
ein marmorner Brunnen, auf dessen Rand ich niich setzte.
Jn der Fcrne sang ein Verkäufer seinen langen Ruf,
ein Glockengeläut verhallte, und irgendwo spielte auf
einem Cello jemand die tote Strophe dieser verlorenen
Stadt. Und wie ich aufblickte, sah ich an einem offenen
Fenster mir gegenüber eine nackte Frau stehen.
Sie stand aufrecht, sah mich an und zeigte mir ihre
Brüste. Dabei lächelte sie nicht und winkte auch nicht,
wie eö die Art leichtsinniger Frauen ist, sondern sah ernst
und still auf mich hin. Jch stand auf und ging auf das
Haus zu. Und auch in nieincm Herzen war es ganz
ernst und still, als ich die Klinke ihrer Türe drückte.
Nachher, als ich wieder heraustrat, sah ich nnch noch
einmal nach ihrem Hause um. Und da bemerkte ich crst,
was ich vorhin nicht gesehen hatte, daß nämlich jenes
merkwürdige Greifensymbol auch an der Wand diescs
Hauses angebracht war. Es ist das ein rundes Reliefbild-
werk und stellt den Vogeldrachcn Greif dar, der einen
Menschen oder auch ein Tier gepackt hat und seine Ein-
geweide wühlend zerreißt.
Man sieht dieses Bildwerk an den alten Palästen des
Großen Kanales hier und da, auch an der Markuskirche.
Aber nirgendwo war es mir so klar und so schön erschienen
wie an diesem Hause. Und ich setzte mich auf den Vcarmor-
rand des Brunnens und zeichnete es in mein Buch.
DaS Sonett.
Jch hatte das alte italienische Sonett zu Ende gelesen.
Schaudernd schloß ich die Augen und lehnte mich im
Stuhle zurück. Dann gab ich das Buch dem Professor
zurück und sagte:
„Das ist das Keuschste und Heiligste, was ich je las. Es
ist wie der Gesang eines ganz jungen Engels vor Gottes
Thron; eines jungen Engels, der zum crsten Male die
goldenen Saiten der großcn Harfe grcifen darf. Zögernd
und doch voll Auversicht. Welch Minnesänger hat dieses
Lied auf die reinste Frau geschrieben?"
Der Professor antwortete mir: „Dieses Gedicht wurde
von dem Hofpoeten der Gonzaga geschrieben, als cr
wegen Wuchers im Gefängnis saß. Er schrieb cs auf
die venerische Maitresse seines Fürsten und hoffte dafür
die Freiheit zu bekommen. Die Freiheit erhielt er nun
zwar nicht, aber man schickte ihm als Dank einen kalten
Kapaunenbraten ins Gefängnis. Und auch damit war
er immerhin zufrieden."
In ?sne, 8uk pLne. . .
Das war ein gar strahlender Sonnenausgang, der
über der Mechelheide leuchtete am Morgen des Schlacht-
tages. Der helle Oktoberhimmel war wie Glas, die
Hügel der Ferne leuchteten, und als die Lutherischen auf
das Feld rückten, wo die Katholischen in Reih und Glied
schon warteten, da blitzten alle Speerspitzen wie die
Tropfen eines Wasserfalles.
Es galt aber eine große Sache; es galt auszufechten,
in welcher Art die Person Christi m dem Brot des Abend-
mahles vorhanden sei; ob sich das Brot ganz in das
Wesen Gottes verwandelt habe, wie es die Katholischen
meinten; oder ob die Person Christi nur im Brote und
unter deni Brote stecke, wie es der Doktor Luther in
Wittenberg gelehrt hatte. Das niußte jetzt ausgefochtcn
werden zwischen allen diesen Männcrn.
Und als die Trompctcn schmettertcn, da klang es wie
Kirmesmusik am Sonntage; denn wirklich war es ja
Sonntag heut, und in den fernen Dörfern rüstete man
schon den Tanz. Und die zwölf Grafen und Fürsten,
die an der Spitze der Lutherischen ritten, wiegten sich
festtäglich ini Sattel im Rhythnius des kurzen englischen
Trabes.
Hie Kelch, hie Transsubstantiation.
Am Abend aber kroch dcr erkaltende Rauch der Artillerie
die Hügel entlang, und das Schlachtfeld verstummte.
Und da lagen die zwölf Grafen der Lutherischen tot
im Grase; alles junges Blut dcr besten nassauischen
Häuser; und waren in Reihen ncbcneinandergelegt,
wie nian nach der Jagd die Fasancn zur Strecke legt.
Ein Bentheim, ein Solms, zwei aus dem großen
Hause Oranien, die vier Söhne und letzten Erben des
Stanimes Prynn.
Der jüngste der Prynn hatte einen Stückschuß ins
Gesicht bekommen, dcr dcn Untcrkiefcr weggerissen
hatte. Nur die Aunge war geblieben und streckte
sich gerade, wie ein langer Aapfcn, aus der Wunde
hervor.
Aus seinem Halstuch aber hing ein Medaillon herauö
mit dem sauberen Miniaturbilde eines lachenden Mad-
chens. Und um das Bild heruni lief eine Jnschrift, die
lautete: „Na vis oki mg, Uoulos vio".
leine Aufsähe über Musik.
8. Musikgeschichtliches.
Jch erwähnte in der vorhergehenden Nummer cinc
der großen Entdeckungen Beethovens; dieseni Gegen-
stand möchte ich nun noch etwas weiter nachgehen.
Jch meine die harmonische Struktur des Anfangs der
Waldsteinsonate, dic ich in dcm jüngst von mir ange-
führten Aufsatz in dem Wickersdorfer Jahrbuch II als
Beethovens geistige Tat behandelt habe. Die Harmonic-
gänge zu Anfang der vielgespieltcn 6-LloII-Fantasie
von Mozart hätte ich an dieser Stelle als nur scheinbar
ähnlich, als aus wesentlich anderer Gesinnung erzeugt und
als von anderer Eigenschaft und Wirkung aufzuzeigen
wohlgetan; die Errungenschaft Beethovens wird nämlich
nicht etwa schwächer, sondern im Gegenteil größer,
212