rinz Hamlets Briefe.
Materialismus! — Awanzig Jahre mögen
vergangen sein, seit das Wort seine erste große
Epoche erlebte und, in dem Munde der Vornehmen
damals, besonders in den Kreisen der hohen Beamten-
schaft garnicht mehr verstummen wollte, die durch den
Glanz des hochkommenden Kaufmannstums über-
blendet, durch das Geschrei der mit dem neuen Kauf-
mannstum aufkommenden Arbeiterklasse zugleich in
ihrer Sonderstellung bedroht wurden. Jn diesen Kreisen
ist das Wort heute nicht mehr so zu Hause wie einstmals,
denn auch sie haben zum Teil sich den neuen Aeiten
angepaßt; wenn ihnen die Jagd um direkte pekuniare
Vorteile bei der Art der amtlichen Karriere verwehrt ist,
so haben sie einen erbitterten und oft sehr rücksichtslosen
Kampf um Dinge zu führen gelernt, die letzten Endes
kaum minder materiell sind als das Geld, zudenr immer-
hin ebenfalls mit pekuniären Vorteilen verknüpft zu sein
pflegen und jedenfalls einen Ersatz für goldene Schätze
bilden: den Kampf um Stellung und Titel, um ofsizielle
Ehren jeder Art. Dafür wird das Wort heute zum
Kampfgeschrei der Geistigen aller Lander, aufgenommen
von den geistiger gestimmten Angehörigen sämtlicher
Stände und Klassen, in Europa aufklingend um das Rund
der Erdkugel bis zu dem Osten, von wo es in einem
Buche wie dem von Paquet herausgegebenen, von dem
chinesischen Schriftsteller Ku Hung-Ming geschriebenen
„Chinas Verteidigung gegen europäische Jdeen"* jüngst
als ein nicht zu überhörender Hilferuf über die Meere
zu uns drang. Aber die zwanzig Jahre, die inzwischen
vergangen sind, haben wenigstens zur Erkenntnis der
Ursache geführt, die damals die seelische Stimnmng
der Welt in einer so furchtbaren Weise abflauen ließ,
daß ein ehrlicher Mann kaum noch das Wort „Gott"
auszusprechen wagte: Eine ungeahnte Bevölkerungs-
zunahme in den mitteleuropäischen Ländern, damit
der Awang, weit mehr Menschen als zuvor zu ernähren
und zu beschäftigen, jedenfalls also mehr zu verdicnen,
machte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine
Umformung der Produktionsweise nötig. Fortgesetzte
Differenzierung immer unseelischer werdender Berufe,
dazu jeden Raum überwindende Organisation von
Arbeit und Arbeitskraft haben in Verbindung mit der
vom europäischen Menschen ausgebildeten Maschine
die Aufgabe gelöst, vor die Europa gestellt war.
Allein sie haben auch an die Stelle der alten Welt
eine neue Welt gestellt, in der jeder Mensch nur ein
Rad im großen Rädergetriebe ist und zu immer un-
persönlicherer und selbstloserer, immer härterer und
kälterer Arbeit gezwungen wird. Denn die ungeheure
Produktionsmaschine, die die Welt heute darstellt, hat
zu anderem die satanische Eigenschaft, nicht nur die
nötige Arbeit zu leisten, sondern auch ständig neue Arbeit
zu fordern und deshalb künstliche Bedürfnisse zu wecken;
so daß der Mensch heute wirklich der Knecht der Maschine
geworden ist, die er sich zum Dienst erschuf. — Selbst in
seiner tiefsten Not hat sich der Mensch eine dunkle Er-
innerung an seine Seele bewahrt und er sucht nach dem
* Das außerordentlich interessante Buch ist im Verlage von
Diederichs in Iena erschienen.
Griff, mittels dessen sich die Maschine stillegen läßt, die
ihn selbst zur Maschine macht. Die Lösung des Sozialis-
mus, der das Wesen des Kapitalismus früh erkannt hat,
gilt heute nicht mehr viel, denn der Kapitalismus ist
damit nicht aus der Welt geschafft, daß an die Stelle
des Einzelunternehmers der Staat tritt; außerdem ist
der Kapitalismus nötig. So gilt mehr und mehr als die
cinzige Rettung, daß jeder Einzelmensch es lerne, der
Lockung der Produktionsmaschine zu widerstehen und
cmter Verzicht auf allen Lurus seine Bedürfnisse mate-
rieller Art soweit wie möglich einzuschränken, damit er
wieder Muße gewinne, seiner Seele zu leben, die ihm
tiefere, vor allem würdigere Freuden zu verschaffen
mag, als alle Materie, so glänzend, so berauschend sie
für den Augenblick scheine. Freilich genügt, wo die
Seele einmal schwach geworden ist, solche theoretische
Einsicht allein nicht, um ein neues Zeitalter seelischer
Haltung herauszuführen, und da alles Nachfühlen
fremden Fühlens vergangener Aeiten nicht mehr als eine
Anregung für das neue Gefühl sein kann, das entstehen
soll, so wartet die Menschheit auf denjenigen, der ihr
das neu-alte Menschentum vorlebe.
Der Unbekannte, von dem, zu wenig beachtet, im
Jahre 1909 schon ein seltsames Buch mit dem Titel
„Prinz Hamlets Briefe" erschien,* ist gewiß kein Gott,
und auch die Kraft des Propheten fehlt ihm, die dem
halben Heiligen, den unsere halbe Ieit hervorbrachte,
die Tolstoi wenigstens nicht ganz fehlte. Aber solange
der Große und Starke nicht kommt, der uns die Lösung
bringt, auf die wir warten — falls die Lösung über-
haupt von eincm Einzelnen ausgeht und nicht, wie man
mit Walther Rathenau glauben möchte, langsam und un-
merklich über die ganze Welt kommt — so lange haben
wir Deutschen immerhin alle Veranlassung, dieses
schmale Buch z» lesen und wieder zu lesen, bis die aphoris-
menhaften Stellen, an denen es reich ist, völlig in unser
Gefühl übergegangen sind: Denn in keinem der heute
schreibenden, malenden, musizierenden oder sonstwie
auf die Bühne der Nation tretenden Deutschen setzt
sich die seelisch-geistige, die Charaktertradition des
deutschen Menschen mit solcher Reinheit in unsere
Tage fort, wie in dem Verfasser diescs Buches. Ein
Dichtcr wie Paul Ernst zwar macht seine Dichtung von
Jahr zu Jahr mit größerer Entschiedenheit zu einer
Dichtung vom Adelsmenschen; doch die furchtbar deut-
liche Psychologie der Knechtsnaturen, die er seinen
Helden gegenüberstellt, zeigt deutlich genug, in welchem
Maße dieser Prophet noch mit sich selbst im Kampfe
steht. Jhm gegenüber ist die Bedeutung dieses Un-
bekannten gerade, daß er in seinem Menschentum voll-
kommen fest steht und die Kämpfe, die sein Leben er-
schüttern, nicht mit sich selbst auszukänipfen hat, sondern
einzig mit der Welt, die er noch nach seinem Bilde
umschaffen muß. — Daß das Buch anonym erschienen
ist, muß um deswillen bedauert werden, als es sonst viel-
leicht mit Antwort geben könnte auf die Frage, ob wirk-
lich, wie heute mehr als ciner annimmt, die Begründung
einer neuen seelisch-aristokratischen Lebensanschauung nur
von der Standesaristokratie wird ausgehen können, der,
soweit sie selber sich blutrein erhalten habe, trotz mancher
* Berlaq Reichl L Co„ Berlin 1909.
Materialismus! — Awanzig Jahre mögen
vergangen sein, seit das Wort seine erste große
Epoche erlebte und, in dem Munde der Vornehmen
damals, besonders in den Kreisen der hohen Beamten-
schaft garnicht mehr verstummen wollte, die durch den
Glanz des hochkommenden Kaufmannstums über-
blendet, durch das Geschrei der mit dem neuen Kauf-
mannstum aufkommenden Arbeiterklasse zugleich in
ihrer Sonderstellung bedroht wurden. Jn diesen Kreisen
ist das Wort heute nicht mehr so zu Hause wie einstmals,
denn auch sie haben zum Teil sich den neuen Aeiten
angepaßt; wenn ihnen die Jagd um direkte pekuniare
Vorteile bei der Art der amtlichen Karriere verwehrt ist,
so haben sie einen erbitterten und oft sehr rücksichtslosen
Kampf um Dinge zu führen gelernt, die letzten Endes
kaum minder materiell sind als das Geld, zudenr immer-
hin ebenfalls mit pekuniären Vorteilen verknüpft zu sein
pflegen und jedenfalls einen Ersatz für goldene Schätze
bilden: den Kampf um Stellung und Titel, um ofsizielle
Ehren jeder Art. Dafür wird das Wort heute zum
Kampfgeschrei der Geistigen aller Lander, aufgenommen
von den geistiger gestimmten Angehörigen sämtlicher
Stände und Klassen, in Europa aufklingend um das Rund
der Erdkugel bis zu dem Osten, von wo es in einem
Buche wie dem von Paquet herausgegebenen, von dem
chinesischen Schriftsteller Ku Hung-Ming geschriebenen
„Chinas Verteidigung gegen europäische Jdeen"* jüngst
als ein nicht zu überhörender Hilferuf über die Meere
zu uns drang. Aber die zwanzig Jahre, die inzwischen
vergangen sind, haben wenigstens zur Erkenntnis der
Ursache geführt, die damals die seelische Stimnmng
der Welt in einer so furchtbaren Weise abflauen ließ,
daß ein ehrlicher Mann kaum noch das Wort „Gott"
auszusprechen wagte: Eine ungeahnte Bevölkerungs-
zunahme in den mitteleuropäischen Ländern, damit
der Awang, weit mehr Menschen als zuvor zu ernähren
und zu beschäftigen, jedenfalls also mehr zu verdicnen,
machte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine
Umformung der Produktionsweise nötig. Fortgesetzte
Differenzierung immer unseelischer werdender Berufe,
dazu jeden Raum überwindende Organisation von
Arbeit und Arbeitskraft haben in Verbindung mit der
vom europäischen Menschen ausgebildeten Maschine
die Aufgabe gelöst, vor die Europa gestellt war.
Allein sie haben auch an die Stelle der alten Welt
eine neue Welt gestellt, in der jeder Mensch nur ein
Rad im großen Rädergetriebe ist und zu immer un-
persönlicherer und selbstloserer, immer härterer und
kälterer Arbeit gezwungen wird. Denn die ungeheure
Produktionsmaschine, die die Welt heute darstellt, hat
zu anderem die satanische Eigenschaft, nicht nur die
nötige Arbeit zu leisten, sondern auch ständig neue Arbeit
zu fordern und deshalb künstliche Bedürfnisse zu wecken;
so daß der Mensch heute wirklich der Knecht der Maschine
geworden ist, die er sich zum Dienst erschuf. — Selbst in
seiner tiefsten Not hat sich der Mensch eine dunkle Er-
innerung an seine Seele bewahrt und er sucht nach dem
* Das außerordentlich interessante Buch ist im Verlage von
Diederichs in Iena erschienen.
Griff, mittels dessen sich die Maschine stillegen läßt, die
ihn selbst zur Maschine macht. Die Lösung des Sozialis-
mus, der das Wesen des Kapitalismus früh erkannt hat,
gilt heute nicht mehr viel, denn der Kapitalismus ist
damit nicht aus der Welt geschafft, daß an die Stelle
des Einzelunternehmers der Staat tritt; außerdem ist
der Kapitalismus nötig. So gilt mehr und mehr als die
cinzige Rettung, daß jeder Einzelmensch es lerne, der
Lockung der Produktionsmaschine zu widerstehen und
cmter Verzicht auf allen Lurus seine Bedürfnisse mate-
rieller Art soweit wie möglich einzuschränken, damit er
wieder Muße gewinne, seiner Seele zu leben, die ihm
tiefere, vor allem würdigere Freuden zu verschaffen
mag, als alle Materie, so glänzend, so berauschend sie
für den Augenblick scheine. Freilich genügt, wo die
Seele einmal schwach geworden ist, solche theoretische
Einsicht allein nicht, um ein neues Zeitalter seelischer
Haltung herauszuführen, und da alles Nachfühlen
fremden Fühlens vergangener Aeiten nicht mehr als eine
Anregung für das neue Gefühl sein kann, das entstehen
soll, so wartet die Menschheit auf denjenigen, der ihr
das neu-alte Menschentum vorlebe.
Der Unbekannte, von dem, zu wenig beachtet, im
Jahre 1909 schon ein seltsames Buch mit dem Titel
„Prinz Hamlets Briefe" erschien,* ist gewiß kein Gott,
und auch die Kraft des Propheten fehlt ihm, die dem
halben Heiligen, den unsere halbe Ieit hervorbrachte,
die Tolstoi wenigstens nicht ganz fehlte. Aber solange
der Große und Starke nicht kommt, der uns die Lösung
bringt, auf die wir warten — falls die Lösung über-
haupt von eincm Einzelnen ausgeht und nicht, wie man
mit Walther Rathenau glauben möchte, langsam und un-
merklich über die ganze Welt kommt — so lange haben
wir Deutschen immerhin alle Veranlassung, dieses
schmale Buch z» lesen und wieder zu lesen, bis die aphoris-
menhaften Stellen, an denen es reich ist, völlig in unser
Gefühl übergegangen sind: Denn in keinem der heute
schreibenden, malenden, musizierenden oder sonstwie
auf die Bühne der Nation tretenden Deutschen setzt
sich die seelisch-geistige, die Charaktertradition des
deutschen Menschen mit solcher Reinheit in unsere
Tage fort, wie in dem Verfasser diescs Buches. Ein
Dichtcr wie Paul Ernst zwar macht seine Dichtung von
Jahr zu Jahr mit größerer Entschiedenheit zu einer
Dichtung vom Adelsmenschen; doch die furchtbar deut-
liche Psychologie der Knechtsnaturen, die er seinen
Helden gegenüberstellt, zeigt deutlich genug, in welchem
Maße dieser Prophet noch mit sich selbst im Kampfe
steht. Jhm gegenüber ist die Bedeutung dieses Un-
bekannten gerade, daß er in seinem Menschentum voll-
kommen fest steht und die Kämpfe, die sein Leben er-
schüttern, nicht mit sich selbst auszukänipfen hat, sondern
einzig mit der Welt, die er noch nach seinem Bilde
umschaffen muß. — Daß das Buch anonym erschienen
ist, muß um deswillen bedauert werden, als es sonst viel-
leicht mit Antwort geben könnte auf die Frage, ob wirk-
lich, wie heute mehr als ciner annimmt, die Begründung
einer neuen seelisch-aristokratischen Lebensanschauung nur
von der Standesaristokratie wird ausgehen können, der,
soweit sie selber sich blutrein erhalten habe, trotz mancher
* Berlaq Reichl L Co„ Berlin 1909.