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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 12
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[Notizen und Besprechungen]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0468

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er fremde Geselle.

Das sind große UnterlassungKsünden. Jch öin ein bedeu-
tender Schurke gegen mich selber. An mir sehe ich, wie die Menschen
durch Trägheit sündigen. Jch warte immer auf ctwas, das mir
entgegenzutreten habe. Wie nun, wenn alle Menschen das tun;
wenn ieder so wartet auf das, was da kommen soll? Es kommt
nie etwas. Es kommt demnach für niemand das betrefsende Etwas.
Was einer so erwartet und erwartet, kommt nie. Was also elle
erwarten, erscheint allen nie. Hier ist die große Sünde. Anstatt
daß ich gehe und jemand entgegengehe, warte ich, bis jemand mir
gsfällig entgegentritt, das ist die rechte Trägheit, der rechte un-
gerechtfertigte Stolz. Gestern ebend schaute ein sonderbarer wild-
fremder Geselle, der irgend etwas zu suchen schien, zu mir hinauf.
Jch stand am offenen Fenster. Jch schaute ihn an, der zu mir
hinaufschaute, so, als sei er eines kleinen Zeichens gewärtig. Ich
hätte nur zu nicken brauchen mit dem Kopf und cine seltsame,
ungewöhnliche Menschenverbindung wäre vielleicht schon angebahnt
gewesen. Vielleicht ja auch nicht. Wer vermag es zu wissen. Ctwas
Ungewisses vermag man nicht zu wissen, aber gleichviel. Jch
hätte der dvnkl-'n, ungewissen, vom zauberischen Abendlicht
umflossenen Menschengestalt ein Zeichen geben sollen. Es sah aus,
als sei der fremde Mensch einsam arm und ein-am. Doch sah es
zur selben Zeit aus, als wisse er viel und vermöge manches, das
wert sei, vernommen zu werden, zu erzählen, als sei alles das,
was er zu sagen habe, angetan, zu Herzen genommen zu werden.
Und warum bin ich ihm nun gar nicht entgegengekommen? Jch
begreife mein Benehmen kaum; auf solche Art und Weise sordern
sich Menschen in die Nähe und gehen, ohne Spuren zu hinter-
lassen, wieder voneinander weg. Das ist nicht gut. Das ist eigentlich
recht schlecht. Es ist ja eine rechte Sünde. Nun will ich natürlich
eine Ausrede suchen und nur vorsagen, daß an dem Fremdling
möglicherweise nichts gelegen sei. Möglicherweise? Da bin ich
schon gefangen; denn ich gebe ja zu, daß, auf der andern Seite,
d. h. bei anderem Licht besehen, irgend etwas ist an ihm. Jch
bin demnach also keineswegs zu entschuldigen. Kalt habe ich den
Gesellen, der mir vielleicht ein Freund HLtte werden, und dem
auch ich ein Freund hätte werden können, abziehen lassen. Selt-
sam, seltsam. Ich bin erstaunt, nein, ich bin mehr als erstaunt,
ich bin ergriffen, und Trauer schleicht sich mir in das Herz.

Ich komme mir ganz unverantwortlich vor, und ich könnte
sagen, daß ich unglücklich sei. Doch ich liebe die Worte Glück und
Unglück nicht; sie sagen nicht das Rechte. Ich habe bereits dem
unbekannten Menschen, der zu mir hinaufgeschaut hat, einen
Namen gegeben. Ich nenne ihn, wenn ich an ihn denke, Tobold.
Mir ist dieser Name zwischen Schlafen und Wachen eingefallen.
Wo ist er jetzt, und an was denkt er? Ob es mir wohl möglich sein
wird, seine Gedanken zu denken, zu erraten, was er denkt, und
das Gleiche, wie er, zu denken? Meine Gedanken sind bei ihm,
der mich suchte. Offenbar hat er mich gesucht, und ich habe ihn
nicht eingeladen, zu mir zu kommen, und er ist dann wieder ge-
gangen. An der Ccke des Hauses bat er sich nochmals umgedreht,
dann verschwand er. Jst er nun für immer verschwunden?

Robert Walser.

erhart Hauptmann

hat seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert und dazu den
Nobelpreis bekommen; allerorts sind seine Dramen wieder auf-
geführt worden, die seit einigen Iahren dünner im Repertoire
der deutschen Bühnen geworden waren: also ein festliches Iubi-
läum, das keiner dem Dichter mißgönnen kann. Wer aber zusieht,
merkt bald, daß es sich um mehr handelt als um notgedrungene
Iubiläumsaufführungen; es ist eine Art Auferstehung seiner
Dichtungen, die allmählich schon unlebendiger zu werden scbienen.
Die Kritik, so bissig sie sich mancbmal an die Fersen des Dichters
heftete, hatte nicht ernsthaft versucht, ibm zu schaden, auch war
nicht etwa eine Wendung im Zeitgefühl eingetreten, die seinen
Werken den Lebensboden nahm: es war im Ganzen nichts als
die Cnttäuschung, die nach den letzten Fehlschlägen auf der Bühne
allmäblich auf die gesamte Erscheinung des Dichters ging. Cr
hatte sich als Held nicht so geha'ten, wie der Instinkt erwartete,
er war gerutscht, und als er selber resigniert — wie es erschien —
vom Drama zum Roman überging, war in seinen Kredit das leise
Mißtrauen gekommen, das im Geschäftsleben den Hingang erfolg-
reicher Größen andevtet.

IIm dieses Mißtrauen versiändlicher zu finden, muß man
bedenken, daß sein eigentlicher „Sieg", soweit er zum erstenmal

über den Kreis der Gebildeten hinaus ging, sich an die „Versunkene
Glocke" heftete, also an ein Stück, das nicht in der Höhe seiner
Dicbtung liegt. Die allgemeine Anerkennung — nicht die bei seincn
„Anbängern" — stand also auf einem zweifelhaften Wert; und
wollte man plump sein, ließe sich sagen: daß er die Hoffnungen
auf solche Werte nicht erfüllen konnte und dadurch das Vertrauen
in seine Sieghaftigkeit enttäuscben mußte. Bis zu den „Ratten"
war es jedesrnal nicht der „Schlager", und selbst das entzückende
„Glashüttenmärchen": „Und Tippa tanzt" vermochte nicbt in das
Massenherz des Volks zu dringen. Cr war für die Zeitbühne
doch nur ein „halber Held". und dieser äußere Mißerfolg, den er
mit der ununterbrochenen Iahreskette seiner letzten Dramen nicht
durchbrechen konnte, schadete ihm allmählich auch im Gefühl der
Wenigen, die ihm eine Schwäche vorrechneten.

Es stand so: seme ersten Crfolge hatte er im Aufstand des
sogenannten Naturalismus erlebt, dessen Florian Geyer er war,
sein Triumph mit der „Dersunkenen Glocke" kam nickt aus diesec
Richtung, er war ein Zwischenfall. Als er nachher seines Weges
weiter ging, nur immer tiefer — wie im Schluß des Michael Kramer
— ohne die weinerlicki-romantische Gebärde des Glockengießers
ins Gefühl greifen wollte und damit vor dem Theaterpublikum
abfiel, setzte der Zweifel ein, ob seine Wirkung nicbt überhaupt
cine zeitliche gewesen wäre, sodaß er mit der „Überwindung des
Naturalismus" von selber an seiner Lebendigkeit Schaden leiden
müßte?

Die Rückbesinnung kam mit dem Abdruck von „Gabriel
Scküllings Fluckck" in der Neuen Rundschau und der merkwürdigen
Aufführung dieses aus einer verflossenen Kampfzeit binterlassenen
Bühnenstücks in Lauchstaedt. Die resignierte Weltslucht der
angeblich einmaligen Aufführung stand mit der verschüchterten
Vorbemerkung des Dichters im Einklang: der Erfolg war ein
unerwarteter. Nicht, daß die Aufführung eine Glanzleistung ge-
worden, oder daß iie einen neuen Gerhart Hauptniann gezeigt hätte:
es war die gewobnte halbleise Stimme und man hätte kopfschüttelnd
wie sonst nach Hause fahren können: wie zwiespältig am Tasso,
am Prinzen von Homburg oder gar am Hamlet gemessen, diese
Dichtung sei. Statt dessen erwachte gerade das Gefühl einer
inneren Zusammengehörigkeit; man hörte aus allen zeitlichen
Besonderheiten, auch Unzvlänglichkeiten, den reinen Ton der
Dichtung und sab eigentlich zum erstenmal über seine Banner-
trägerschaft beim Naturalismus, seine Erfolge und Mißerfolge am
Theater hinausragend — die Gestalt des Dichters, der so unver-
sehens zu einem lebcnden „Klassiker" wurde.

Die Kritik seiner Leistungen setzte sicb in die historiscbe Betrach-
tung seiner Werke um und registrierte so den dauernden Besitz
von Dingen, die nicht mebr von der Meinung eines Publikums,
im Theater oder sonst, abhängig waren. Gerhart Hauptmann
machte als Zeitgenosse den ersten Schritt in die zeitüberdauernde
Wirkung, die wir hochmütig genug schon Cwigkeit zu nennen
pslegen. Ob es der wirkliche Anfang einer „Ewigkeit" eines dauern-
den Besitzes ist, das vermag kein Lebender zu beurteilen: nun
kommt nacb der Kritik dcr Zeitgenossen die unerbittliche Kritik
der Zeit. Ihr überreichen wir den Dichter, aber daß wir es trotz
aller Bedenken mit einem Stolz tun — sei es so oder so, nicht anders
als dieser Mann war unsere Zeit und es gehört zu unserm Besten,
was wir mit ihm geben — das ist die schönste Ehrung, die ein
Volk einem Mann aus seiner Mitte darbringen kann, und daß
Gerhart Hauptmann diese Cbrung zu seinem fünfzigsten Geburts-
tag erlebt, ist ein seltenes Glück.

Sein Verleger (S. Fischer) registriert dieses Glück mit einer
vollständigcn Volksausgabe seiner Wcrke in sechs Bänden (in
Leinen 20 Mk., in Halbleder 26 Mk.), die nacb seiner Ankündigung
„in der Vereinigung von Vollständigkeit, Gescbmacksicberheit und,
was das Wichtigste ist, Billigkeit unter den Gesamtausgaben lebender
Dichter ihresgleichen in unserm Buchhandel nicht hat;" welches
Cigenlob man gern durch Unterschrift zur Anerkeanung macht.

Reinhold Treu.

in komischer Roman.

Friedrich Freksas „Buch Phosphor"* ist der Versuch eines
großen komischen Romans. Die Grundidee ist ansaezeichnet:
Ein deutscher Normalbürger, Bräutigam, Besitzer eines sicber
angelegten Verrnögens, Mitglied vieler Vereine und Klubs,
mit der entfernten Möglichkeit, noch einmal die höcbste Staffel
des Menschentums zu erreichen und Reichstagsmitglied zu

* Gcorg Müller, München.
 
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