rthur Schnitzlers episches Werk.*
In der breiten Besprechung, die vor einigen
Monaten an dieser Stelle dem erzählerischen Werke
Hermann Stehrs gewidmet wurde, ward einleitend schon
kurz dargelegt, daß das letzte Jahrzehnt des vergangenen
Jahrhunderts der Poesie so ungünstig war wie kaum ein
anderes; denn in der Erschöpfung der Nerven, die auf
die Umwandlung des Wirtschaftsbetriebes folgte, hatte
man sogar theoretisch auf den Glauben an die Kraft und
Freiheit der Seele verzichtet, der doch der einzige Quell
der Poesie bleibt: Eine Würdigung von Arthur Schnitzlers
epischem Lebenswerk muß danach mit dem Ausatz be-
ginnen, daß dieses Jahrzehnt von 1890 bis 1900 der
Poesie immer noch günstiger in Deutschland als in
Osterreich war. Denn der seelische Zusammenbruch, dem
Deutschland in diesem Ieitracim verfiel, erklärt sich
immerhin so, daß die deutsche Seele sich nicht sogleich
einem neuen Streben gewachsen zeigte, das aus uner-
kenntlichen Gründen plötzlich immer mächtiger in ihr an-
wuchs und sich auch schon in mehreren siegreichen Kriegen
manifestiert hatte! So jämmerlich die sogenannten
naturalistischen Dichtungen zu endigen pflegen: tat-
sächlich zeugen sie ja auch von einer Energie ihrer
Schöpfer in dem Kampfe um die Ausbildung eines
neuen Weltbildes, ohne die wir uns das Gute, das wir
heute langsam zu erhalten meinen, kaum zu denken ver-
mögen. Außerdem war der Kunst in niancher Hinsicht
günstig, daß das Studienobjekt, das sich die Naturalistcn
gewählt hatten, wirklich „Natur" war, ursprünglich
nämlich ausschließlich den Kreis der Volksgenossen um-
faßte, die im engeren Sinne des Wortes zum „Volk"
gerechnet werden und mit ihren dumpferen und nie-
drigeren, dafür aber auch ungebrocheneren Trieben dem
Elementaren sicherlich weit näher sind als die oberen
Schichtcn. — Demgegenübcr äußert sich in dem psychi-
schen Zerfall, der um die gleiche Zeit in Osterreich zu
verspüren ist, die Müdigkeit eines Volkcs, das nach
einer langen Periode genußreicher Herrschast nach
festem historischem Gesetz auf cine Weile aus dem Kreis
der Tätigen zurücktritt, um sich auszuruhen. Während
in Deutschland neben den grünen Wäldern aus Fabrik-
schornsteinen neue Wälder aufwuchsen und in deren
Schatten ein neues Volk, das das ältere vor neue Fragen,
aber auch vor neue Aufgaben stellte, schlief Osterreichs
Kraft. Nur was nicht ganz schlafen kann, der Geist dieses
Organismus', verteilt auf die geistigen Arbeiter der
Nation, grübelte den Gründen dieser Ohnmacht nach
und schuf sich in albschweren Träumen immer neue
Bilder von ihr. Damals wurde der Held der Dichtung
der junge Mann aus gutem Hause, der wenig tat; seine
innere Unfruchtbarkeit symbolisierte sich in der kurzen
Dauer aller seiner Liebesverhältnisse, die — aus Laune
und aus Träumerei, gewiß nicht aus dem Willen zur
Fruchtbarkeit geboren — dem leichten Mädchen oder der
Frau des anderen, niemals dem cigenen Weibe galt.
Die in der allgemeinen Gefühlsarmut der Zeit
noch Gefühlsströme von der Vergangenheit her in sich
strömen fühlten, stellten solche Konflikte in Fornien dar,
* Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Erste Reihe. Die
erzählenden Schriften. Jn drei Bänden bei S. Fischer, Berlin
zum 50. GeburtLtag des Dichters erschienen.
die aus dem Geiste der Vergangenheit heraus geschaffen
wohl selber poetisch, aber doch mehr Schößlinge früherer
Poesie als eigenwüchsig waren. Jhr Meister wurde
Hugo v. Hofmannsthal, der gewiß unserer Ieit als der
einzige die Ahnung eines Dichters großen Stils, des
absoluten Dichters gegeben hat, alles in allem jedoch
eigentlich der Atavismus in Person, ein wundervoller
Ausammenklang von Stimmen aller Aeiten und also
mehr Muschel aus dem Meer des Gewesenen als selber
Meer ist. Die die Gesühlsströme der alten Aeit nicht
stark genug in sich fühlten, weil sie ihre Ahnen nicht
kannten und wirklich Kinder dieser Zeit waren, suchten
aus ihrem eigenen Lebensgefühl heraus eine neue Form
zu bilden. Aber es ist einzusehen, was da entstehen
konnte, wo das Grunderlebnis der schöpferischen Seele
das der eigenen Ohnmacht, ihr Grundgefühl Skepsis
war, sodaß sie ihr Muster bei den Pariser Boulevardiers
suchte, in denen sich damals die große, aber halsbrecherische
Kunst Maupassants zersetzte. — Der Meister dieser
Wiener Boulevardiers wurde Arthur Schnitzler: Wenn
der als Fünfziger heute als Einleitung seines Gesamt-
werkes eine Ausgabe aller seiner erzählenden Schriften
herausgibt, ist es deshalb verständlich, wenn mehr als
zwei Drittel uns nicht mehr als Dichtung gelten können.
Da von dem restlichen Dritteil der größere Teil aus
Kapiteln eines Romanes besteht, der als Ganzes eben-
falls nicht völlig gelungen ist, so bleiben sogar nicht mehr
als zwei skizzenhafte Gebilde übrig, die für uns wirk-
liche Form besitzen und damit als bleibende Werte er-
scheinen. Allein um diese beiden Skizzen baut sich das
übrige Lebenswerk mit solcher Logik auf, der Weg, der
zu diesem Gipsel führt, zeugt von so ernsthafter Bc-
mühung um die Gewinnung echter poetischer Form
— und das ist doch nichts Anderes als die Bemühung
einer Seele um ihre innere Vollendung —, daß eine
jüngere Generation ihn wohl mit Ehrfurcht nachwandern
kann. Dies um so mehr, als der Dichter sein cpisches
Werk im ganzen sicherlich stets als ein Nebenwerk neben
dem dramatischen angesehen hat: Obwohl Schnitzler
stets zu vornehm gewesen wäre, eine Arbeit aus der
Hand zu geben, der er noch nicht seinen inneren Rhythmus
gegeben hatte, verrät manche Stelle in den Novellen,
daß er seine ganze Schaffensenergie ihnen selten ge-
widmet hat und wo es anging, den Tag der Konzep-
tion auch den Tag des Geburts-Abschlusses sein ließ.
Arthur Schnitzler begann mit einem Bande No-
velletten, die in dicser Gesamtausgabe der Erzählungen
etwa die erste Hälste des ersten Bandes füllen. Schon
ihre Bezeichnung als „Novelletten" zeigt das Un-
künstlerische, das Unpoetische ihrer Form, denn ein
Organismus, der sich so natürlich entfalten sollte, wie ein
menschlicher Körper, ist unter Verkürzung der tragenden
und vermittelnden Teile, also unter geschmackloser
Pointierung der entscheidenden Teile zur Karikatur
verzerrt. Der Grund liegt natürlich in der Unfähigkeit
eines ermatteten Herzens, ein Schicksal sich auch noch
in der Wiedergabe ruhig und still nach inneren Gesetzen
entfalten zu lassen, in dem Wunsche kranker Nerven,
künstlich erregt und gereizt zu werden. Wenn diese
Novelletten trotz solcher Iusammenziehung nicht weniger
und zum Teil sehr viel mehr Raum einnehmen, als der
reine Typus der Novelle, so erklärt sich das aus der im-
»V//
r?z
4
In der breiten Besprechung, die vor einigen
Monaten an dieser Stelle dem erzählerischen Werke
Hermann Stehrs gewidmet wurde, ward einleitend schon
kurz dargelegt, daß das letzte Jahrzehnt des vergangenen
Jahrhunderts der Poesie so ungünstig war wie kaum ein
anderes; denn in der Erschöpfung der Nerven, die auf
die Umwandlung des Wirtschaftsbetriebes folgte, hatte
man sogar theoretisch auf den Glauben an die Kraft und
Freiheit der Seele verzichtet, der doch der einzige Quell
der Poesie bleibt: Eine Würdigung von Arthur Schnitzlers
epischem Lebenswerk muß danach mit dem Ausatz be-
ginnen, daß dieses Jahrzehnt von 1890 bis 1900 der
Poesie immer noch günstiger in Deutschland als in
Osterreich war. Denn der seelische Zusammenbruch, dem
Deutschland in diesem Ieitracim verfiel, erklärt sich
immerhin so, daß die deutsche Seele sich nicht sogleich
einem neuen Streben gewachsen zeigte, das aus uner-
kenntlichen Gründen plötzlich immer mächtiger in ihr an-
wuchs und sich auch schon in mehreren siegreichen Kriegen
manifestiert hatte! So jämmerlich die sogenannten
naturalistischen Dichtungen zu endigen pflegen: tat-
sächlich zeugen sie ja auch von einer Energie ihrer
Schöpfer in dem Kampfe um die Ausbildung eines
neuen Weltbildes, ohne die wir uns das Gute, das wir
heute langsam zu erhalten meinen, kaum zu denken ver-
mögen. Außerdem war der Kunst in niancher Hinsicht
günstig, daß das Studienobjekt, das sich die Naturalistcn
gewählt hatten, wirklich „Natur" war, ursprünglich
nämlich ausschließlich den Kreis der Volksgenossen um-
faßte, die im engeren Sinne des Wortes zum „Volk"
gerechnet werden und mit ihren dumpferen und nie-
drigeren, dafür aber auch ungebrocheneren Trieben dem
Elementaren sicherlich weit näher sind als die oberen
Schichtcn. — Demgegenübcr äußert sich in dem psychi-
schen Zerfall, der um die gleiche Zeit in Osterreich zu
verspüren ist, die Müdigkeit eines Volkcs, das nach
einer langen Periode genußreicher Herrschast nach
festem historischem Gesetz auf cine Weile aus dem Kreis
der Tätigen zurücktritt, um sich auszuruhen. Während
in Deutschland neben den grünen Wäldern aus Fabrik-
schornsteinen neue Wälder aufwuchsen und in deren
Schatten ein neues Volk, das das ältere vor neue Fragen,
aber auch vor neue Aufgaben stellte, schlief Osterreichs
Kraft. Nur was nicht ganz schlafen kann, der Geist dieses
Organismus', verteilt auf die geistigen Arbeiter der
Nation, grübelte den Gründen dieser Ohnmacht nach
und schuf sich in albschweren Träumen immer neue
Bilder von ihr. Damals wurde der Held der Dichtung
der junge Mann aus gutem Hause, der wenig tat; seine
innere Unfruchtbarkeit symbolisierte sich in der kurzen
Dauer aller seiner Liebesverhältnisse, die — aus Laune
und aus Träumerei, gewiß nicht aus dem Willen zur
Fruchtbarkeit geboren — dem leichten Mädchen oder der
Frau des anderen, niemals dem cigenen Weibe galt.
Die in der allgemeinen Gefühlsarmut der Zeit
noch Gefühlsströme von der Vergangenheit her in sich
strömen fühlten, stellten solche Konflikte in Fornien dar,
* Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Erste Reihe. Die
erzählenden Schriften. Jn drei Bänden bei S. Fischer, Berlin
zum 50. GeburtLtag des Dichters erschienen.
die aus dem Geiste der Vergangenheit heraus geschaffen
wohl selber poetisch, aber doch mehr Schößlinge früherer
Poesie als eigenwüchsig waren. Jhr Meister wurde
Hugo v. Hofmannsthal, der gewiß unserer Ieit als der
einzige die Ahnung eines Dichters großen Stils, des
absoluten Dichters gegeben hat, alles in allem jedoch
eigentlich der Atavismus in Person, ein wundervoller
Ausammenklang von Stimmen aller Aeiten und also
mehr Muschel aus dem Meer des Gewesenen als selber
Meer ist. Die die Gesühlsströme der alten Aeit nicht
stark genug in sich fühlten, weil sie ihre Ahnen nicht
kannten und wirklich Kinder dieser Zeit waren, suchten
aus ihrem eigenen Lebensgefühl heraus eine neue Form
zu bilden. Aber es ist einzusehen, was da entstehen
konnte, wo das Grunderlebnis der schöpferischen Seele
das der eigenen Ohnmacht, ihr Grundgefühl Skepsis
war, sodaß sie ihr Muster bei den Pariser Boulevardiers
suchte, in denen sich damals die große, aber halsbrecherische
Kunst Maupassants zersetzte. — Der Meister dieser
Wiener Boulevardiers wurde Arthur Schnitzler: Wenn
der als Fünfziger heute als Einleitung seines Gesamt-
werkes eine Ausgabe aller seiner erzählenden Schriften
herausgibt, ist es deshalb verständlich, wenn mehr als
zwei Drittel uns nicht mehr als Dichtung gelten können.
Da von dem restlichen Dritteil der größere Teil aus
Kapiteln eines Romanes besteht, der als Ganzes eben-
falls nicht völlig gelungen ist, so bleiben sogar nicht mehr
als zwei skizzenhafte Gebilde übrig, die für uns wirk-
liche Form besitzen und damit als bleibende Werte er-
scheinen. Allein um diese beiden Skizzen baut sich das
übrige Lebenswerk mit solcher Logik auf, der Weg, der
zu diesem Gipsel führt, zeugt von so ernsthafter Bc-
mühung um die Gewinnung echter poetischer Form
— und das ist doch nichts Anderes als die Bemühung
einer Seele um ihre innere Vollendung —, daß eine
jüngere Generation ihn wohl mit Ehrfurcht nachwandern
kann. Dies um so mehr, als der Dichter sein cpisches
Werk im ganzen sicherlich stets als ein Nebenwerk neben
dem dramatischen angesehen hat: Obwohl Schnitzler
stets zu vornehm gewesen wäre, eine Arbeit aus der
Hand zu geben, der er noch nicht seinen inneren Rhythmus
gegeben hatte, verrät manche Stelle in den Novellen,
daß er seine ganze Schaffensenergie ihnen selten ge-
widmet hat und wo es anging, den Tag der Konzep-
tion auch den Tag des Geburts-Abschlusses sein ließ.
Arthur Schnitzler begann mit einem Bande No-
velletten, die in dicser Gesamtausgabe der Erzählungen
etwa die erste Hälste des ersten Bandes füllen. Schon
ihre Bezeichnung als „Novelletten" zeigt das Un-
künstlerische, das Unpoetische ihrer Form, denn ein
Organismus, der sich so natürlich entfalten sollte, wie ein
menschlicher Körper, ist unter Verkürzung der tragenden
und vermittelnden Teile, also unter geschmackloser
Pointierung der entscheidenden Teile zur Karikatur
verzerrt. Der Grund liegt natürlich in der Unfähigkeit
eines ermatteten Herzens, ein Schicksal sich auch noch
in der Wiedergabe ruhig und still nach inneren Gesetzen
entfalten zu lassen, in dem Wunsche kranker Nerven,
künstlich erregt und gereizt zu werden. Wenn diese
Novelletten trotz solcher Iusammenziehung nicht weniger
und zum Teil sehr viel mehr Raum einnehmen, als der
reine Typus der Novelle, so erklärt sich das aus der im-
»V//
r?z
4