ermann Stehr.
Wemi alles Hadern mit dem Schicksal nicht so
unnütz und Arbeit für den Menschen das ein-
zige Mittel wäre, zu dem ihm irgend erreichbaren Maß
an Lebensfreude zu kommen, dann hatte ein Mann wie
der schlesische Dichter Hermann Stehr wohl zum min-
destcn zweisache Ursache, ob seiner Lebensfügung zu
grollen. Denn wenn ihn das Schicksal schon mit der
Sehnsucht nach künstlerischer Wirksamkeit beschenken
wollte, brauchte es ihn nicht gerade zum Schlesier zu
machen: Schlesien ist die Heimat einiger der größten
mystischen Gottsucher deutschen Geistes, des Schusters
Jakob Böhme und Johann Schefflers, des „Angelus
Silesius"; seit deren Tode ist in dem Lande die brünstige
Neigung, die von irdischer Sehnsucht und irdischem
Schmutze befreite Seele noch in ihrem leiblichen Kleide
der göttlichen Reinheit zu vermahlen, niemals ausge-
storben, wie ja auch Gerhart Hauptmanns „sonderbarer
Narr in Christo" aus Schlesien stammt. Nun ist der Drang
zu mystischer Vertiefung insofern dem dichterischen
Schaffen nicht ganz unahnlich, als eines wie das andere
Kraft der Phaatasie und der Seele verlangt; doch ist
es dichterisch-künstlerischem Schaffen auch wieder polar
entgegengesetzt, da die eigentliche Liebe jedes Mystikers
dem Himmel, dem Übersinnlichen und Unfaßbaren gilt,
während kein Künstler ohne die leidenschaftliche, ja recht
eigentliche sinnenhafte Liebe zu allem Diesseitigen aus-
kommen kann. Vielleicht kann, wer in allem, was auf
unserer Erde so schön blinkt und klingt, nur das Kleid
und Gleichnis eines Unsichtbaren sieht, das hüllenlos
in reinster Schönbeit erst in eincm Jenseits sichtbar wird,
vielleicht kann er als Dichter zu den künstlerischen Formen
kommen, die, unirdischer als andere, fast ganz der an-
betenden und grübelnden Seele zu entfliehen scheinen,
zur religiösen Lyrik, zur Legende, zum Mysterium. Dic-
jenigen Kunstformen, die auf zielhaften Willensregungen
aufgebaut und damit in hohem Maße diesseitig sind,
wie die dramatischen und auch die epischen, bleiben
ihm gewiß versagt. So hätte Hermann Stehr denn
wenigstens das Kind einer Aeit werden sollen, in der
die menschliche Seele sich unbelastet genug fühlen konnte,
um ihres Kleides vergessend der Taube gleich täglich
im Liedc zu ihrem Gotte aufzusteigen. Allein der Dichtcr
wuchs in die Herrschaftsperiode des deutschen Naturalis-
mus hinein: Jndem man im Ausammenbruch der
Nervenkräfte, den der Iusammenbruch der alten Wirt-
schaftsführung mit sich brachte, den Menschen nur noch
auf seine Abhängigkeit hin ansah, drückte man gleich-
sam seiner Seele die Kehle zu und nahm ihr die Möglich-
keit zum Sange, d. h. zu jeder echten Kunst überhaupt;
was den Dichter anbetrifft, so blieb ihm als wesentlichste
Kunstform eine episch-dramatische Mischform zur Ver-
fügung, und in der mußte er als gültigste Reprasen-
tanten der Menschheit gequälte Handarbeiter oder crb-
lich belastcte Bürgerssöhne aus dunipfem Leben zu
trübem Tode führen. Von dem Niveau einer Ieit mit
gesicherteren Lebensbedingungen aus wäre Hermann
Stehr zum mindesten von seinem dreißigsten Jahre ab
zu Leistungen von künstlerischeni Rang berufen gewesen;
unter solchen Umständen hieß es, sich zuerst einmal
selber das Niveau schaffen, von dem aus künstlerische
Leistungen möglich warcn: Uber dieser Aufgabe wurde
er ein Vierundvierziger, bis ihm ein Wurf von der Echt-
heit seiner „drei Nächte" gelang, und die Stationen des
Weges, auf dem er aus einem Naturalisten ein rea-
listischer Dichter, aus einem mystischen Schwärmer zu-
gleich ein Künstler von mystischer Tiefe wurde, seien im
Folgenden kurz skizziert.
Das erste Buch Hermann Stehrs heißt „Auf Leben
und Tod"* und enthalt die beiden Erzählungen „Der
Graveur" und „Meicke, der Teufel"; von denen gehört
die erste insofern noch nicht zu den Erzeugnissen streng
naturalistischer Schule, als es ihr an jener spezifischen
lyrisch-bewegten Stimmung fehlt, die, den eingeflochte-
nen Naturschilderungen entfließend, in echt naturalistischen
Werken die Hoffnungslosigkeit, aber auch die Brüchig-
keit und Unwahrheit der Grundhandlung verdecken muß.
Von einigen ganz kurzen Naturschilderungen abgesehen
ist die Darstellung hier durchaus kalt und reporterhaft,
an einigen Stellen geradezu wissenschaftlich abstrakt,
so daß der Untertitel „psychologische Monographie"
berechtigt erscheint. Dafür ist die Gesamthandlung
durchaus naturalistischen Grundcharakters; von den beiden
Abhängigkeiten, die in jeder naturalistischen Dichtung das
Schicksal darstellen, ist hier nicht die ökonomische, sondern
die gesundheitliche gewählt: Ein Graveur wird zu An-
fang der Geschichte von seinem verkommcnen Bruder
niedergeschlagen und steht vom Krankenbett nur als ein
Stummer wieder auf; das körperliche Leiden treibt in
ihm die Eigenschaft des Mißtrauens empor, und er ver-
fällt nach ciner Reihe weitercr unglaubhafter Vcrwick-
lungen dem Verfolgungswahnsinn, in dem cr nach
wochcnlanger Vagabondage zum Mörder wird. Diese
Krankheitsgeschichte ist in einem untergeordneten, be-
schränkten und unausgebildeten Geiste, in einer alltäg-
lichen und plattcn, oft äußersi ungeschickten Sprache ge-
schrieben, der es an jedem Gefühl für den Ursprung und
das innere Gewicht eines Werkeö fehlt; ernst bei dem
Helden, wird ihre Darstellung bei den Nebenpersonen
plötzlich genrehaft karikierend, und das schöne Gefüge
älterer deutscher Erzählungskunst ist in eine Anzahl häß-
licherSzenen,ja Augenblicke, ja Wahrnehmungen ausein-
andergezerrt. Einzig die Schlußszene hat unvermutet
etwas von Shakespearescher Tiefe des Lebensblickes, wie
sie in einer Kunstrichtung nicht wundernehmen kann,
die der Dichtung ein neues Milieu entdeckte, weil dort
eben die härtesten Lebenskämpfe ausgefochten wurden,
aber eben doch nur selten zu finden ist, weil sich diese
Kunstrichtung als Vorspann für eine zu enge und im
Grunde unpoetische Lebenstheorie benutzen ließ: Mit
Worten, die wenigstens hier und da einmal ein wenig
Pragnanz gewinnen, weil sie nach der Art des älteren
Stifter in der Naturbeschreibung einfach und sachlich
werden, ist eine Szene aufgebaut, die ein prachtvolles
Denkmal für die abenteuerliche Sinnlosigkeit ist, die das
Dasein haben kann. — Die Erzählung von „Meicke, dem
Teufel" gehört völlig zum Naturalismus: Sie spielt in
den Kreisen schlesischer Kleinbauern, deren Dialekt sie
peinlich genau nachbildet; er ist für das Ohr jedes Nicht-
schlesiers ebenso häßlich wie unverständlich, und es ist nicht
* Sämtliche Bücher Hermann Stehrs sind bei S. Fischer in
Berlin erschienen. Der Noman „Drei Mchte" kostet geheftet
M. 5,—, gebunden M. 6,—.
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Wemi alles Hadern mit dem Schicksal nicht so
unnütz und Arbeit für den Menschen das ein-
zige Mittel wäre, zu dem ihm irgend erreichbaren Maß
an Lebensfreude zu kommen, dann hatte ein Mann wie
der schlesische Dichter Hermann Stehr wohl zum min-
destcn zweisache Ursache, ob seiner Lebensfügung zu
grollen. Denn wenn ihn das Schicksal schon mit der
Sehnsucht nach künstlerischer Wirksamkeit beschenken
wollte, brauchte es ihn nicht gerade zum Schlesier zu
machen: Schlesien ist die Heimat einiger der größten
mystischen Gottsucher deutschen Geistes, des Schusters
Jakob Böhme und Johann Schefflers, des „Angelus
Silesius"; seit deren Tode ist in dem Lande die brünstige
Neigung, die von irdischer Sehnsucht und irdischem
Schmutze befreite Seele noch in ihrem leiblichen Kleide
der göttlichen Reinheit zu vermahlen, niemals ausge-
storben, wie ja auch Gerhart Hauptmanns „sonderbarer
Narr in Christo" aus Schlesien stammt. Nun ist der Drang
zu mystischer Vertiefung insofern dem dichterischen
Schaffen nicht ganz unahnlich, als eines wie das andere
Kraft der Phaatasie und der Seele verlangt; doch ist
es dichterisch-künstlerischem Schaffen auch wieder polar
entgegengesetzt, da die eigentliche Liebe jedes Mystikers
dem Himmel, dem Übersinnlichen und Unfaßbaren gilt,
während kein Künstler ohne die leidenschaftliche, ja recht
eigentliche sinnenhafte Liebe zu allem Diesseitigen aus-
kommen kann. Vielleicht kann, wer in allem, was auf
unserer Erde so schön blinkt und klingt, nur das Kleid
und Gleichnis eines Unsichtbaren sieht, das hüllenlos
in reinster Schönbeit erst in eincm Jenseits sichtbar wird,
vielleicht kann er als Dichter zu den künstlerischen Formen
kommen, die, unirdischer als andere, fast ganz der an-
betenden und grübelnden Seele zu entfliehen scheinen,
zur religiösen Lyrik, zur Legende, zum Mysterium. Dic-
jenigen Kunstformen, die auf zielhaften Willensregungen
aufgebaut und damit in hohem Maße diesseitig sind,
wie die dramatischen und auch die epischen, bleiben
ihm gewiß versagt. So hätte Hermann Stehr denn
wenigstens das Kind einer Aeit werden sollen, in der
die menschliche Seele sich unbelastet genug fühlen konnte,
um ihres Kleides vergessend der Taube gleich täglich
im Liedc zu ihrem Gotte aufzusteigen. Allein der Dichtcr
wuchs in die Herrschaftsperiode des deutschen Naturalis-
mus hinein: Jndem man im Ausammenbruch der
Nervenkräfte, den der Iusammenbruch der alten Wirt-
schaftsführung mit sich brachte, den Menschen nur noch
auf seine Abhängigkeit hin ansah, drückte man gleich-
sam seiner Seele die Kehle zu und nahm ihr die Möglich-
keit zum Sange, d. h. zu jeder echten Kunst überhaupt;
was den Dichter anbetrifft, so blieb ihm als wesentlichste
Kunstform eine episch-dramatische Mischform zur Ver-
fügung, und in der mußte er als gültigste Reprasen-
tanten der Menschheit gequälte Handarbeiter oder crb-
lich belastcte Bürgerssöhne aus dunipfem Leben zu
trübem Tode führen. Von dem Niveau einer Ieit mit
gesicherteren Lebensbedingungen aus wäre Hermann
Stehr zum mindesten von seinem dreißigsten Jahre ab
zu Leistungen von künstlerischeni Rang berufen gewesen;
unter solchen Umständen hieß es, sich zuerst einmal
selber das Niveau schaffen, von dem aus künstlerische
Leistungen möglich warcn: Uber dieser Aufgabe wurde
er ein Vierundvierziger, bis ihm ein Wurf von der Echt-
heit seiner „drei Nächte" gelang, und die Stationen des
Weges, auf dem er aus einem Naturalisten ein rea-
listischer Dichter, aus einem mystischen Schwärmer zu-
gleich ein Künstler von mystischer Tiefe wurde, seien im
Folgenden kurz skizziert.
Das erste Buch Hermann Stehrs heißt „Auf Leben
und Tod"* und enthalt die beiden Erzählungen „Der
Graveur" und „Meicke, der Teufel"; von denen gehört
die erste insofern noch nicht zu den Erzeugnissen streng
naturalistischer Schule, als es ihr an jener spezifischen
lyrisch-bewegten Stimmung fehlt, die, den eingeflochte-
nen Naturschilderungen entfließend, in echt naturalistischen
Werken die Hoffnungslosigkeit, aber auch die Brüchig-
keit und Unwahrheit der Grundhandlung verdecken muß.
Von einigen ganz kurzen Naturschilderungen abgesehen
ist die Darstellung hier durchaus kalt und reporterhaft,
an einigen Stellen geradezu wissenschaftlich abstrakt,
so daß der Untertitel „psychologische Monographie"
berechtigt erscheint. Dafür ist die Gesamthandlung
durchaus naturalistischen Grundcharakters; von den beiden
Abhängigkeiten, die in jeder naturalistischen Dichtung das
Schicksal darstellen, ist hier nicht die ökonomische, sondern
die gesundheitliche gewählt: Ein Graveur wird zu An-
fang der Geschichte von seinem verkommcnen Bruder
niedergeschlagen und steht vom Krankenbett nur als ein
Stummer wieder auf; das körperliche Leiden treibt in
ihm die Eigenschaft des Mißtrauens empor, und er ver-
fällt nach ciner Reihe weitercr unglaubhafter Vcrwick-
lungen dem Verfolgungswahnsinn, in dem cr nach
wochcnlanger Vagabondage zum Mörder wird. Diese
Krankheitsgeschichte ist in einem untergeordneten, be-
schränkten und unausgebildeten Geiste, in einer alltäg-
lichen und plattcn, oft äußersi ungeschickten Sprache ge-
schrieben, der es an jedem Gefühl für den Ursprung und
das innere Gewicht eines Werkeö fehlt; ernst bei dem
Helden, wird ihre Darstellung bei den Nebenpersonen
plötzlich genrehaft karikierend, und das schöne Gefüge
älterer deutscher Erzählungskunst ist in eine Anzahl häß-
licherSzenen,ja Augenblicke, ja Wahrnehmungen ausein-
andergezerrt. Einzig die Schlußszene hat unvermutet
etwas von Shakespearescher Tiefe des Lebensblickes, wie
sie in einer Kunstrichtung nicht wundernehmen kann,
die der Dichtung ein neues Milieu entdeckte, weil dort
eben die härtesten Lebenskämpfe ausgefochten wurden,
aber eben doch nur selten zu finden ist, weil sich diese
Kunstrichtung als Vorspann für eine zu enge und im
Grunde unpoetische Lebenstheorie benutzen ließ: Mit
Worten, die wenigstens hier und da einmal ein wenig
Pragnanz gewinnen, weil sie nach der Art des älteren
Stifter in der Naturbeschreibung einfach und sachlich
werden, ist eine Szene aufgebaut, die ein prachtvolles
Denkmal für die abenteuerliche Sinnlosigkeit ist, die das
Dasein haben kann. — Die Erzählung von „Meicke, dem
Teufel" gehört völlig zum Naturalismus: Sie spielt in
den Kreisen schlesischer Kleinbauern, deren Dialekt sie
peinlich genau nachbildet; er ist für das Ohr jedes Nicht-
schlesiers ebenso häßlich wie unverständlich, und es ist nicht
* Sämtliche Bücher Hermann Stehrs sind bei S. Fischer in
Berlin erschienen. Der Noman „Drei Mchte" kostet geheftet
M. 5,—, gebunden M. 6,—.
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