Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

DOI issue:
Heft 4
DOI article:
Benn, Joachim: Hermann Stehr
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0148

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Hermann Stehr.

einzusehen, warum man die endlich gewemnene Einheit
der deutschen Sprache wieder zerstören solst doch ist zu-
zugeben, daß die naturalistische Wiedergabe wurzelecht
völkischer Sprechweise materialechter und damit stil-
voller ist, als das papierne Deutsch der ersten Erzählung.
Was die Handlung anbetrifft, so entspricht sie wiederum
streng der naturalistischen Lebensthecrie: Die Macht,
die hier einem gepeinigten Menschen jede und jede
Möglichkeit nimmt, sein Leben zu reinigen, hat der Dichter
diesmat versucht, durch einen dämonischen Hund zu
symbolisieren, der von dem Unglücklichen nicht läßt;
wirklich gewinnt die Handlung dadurch eine gewisse
Festigkeit, doch ist die natürlich nur äußerlichster 2lrt,
denn wenn nicht jede naturalistische Erzählung durch
ihre ganze Darstellungsmethode alles tate, um eine klare
Jnhaltsanalyse zu erschweren, so wäre dieser zum Hunde
erniedrigte Demiurg im Rahmen einer realistischen
Handlung natürlich von vornherein lächerlich.

Was schon in den Krankheitsszenen im „Graveur",
in den seelischen Kämpfen im „Meicke" allzu üppig auf-
quellen wollte, eine Masse vager, eigentümlich undeut-
licher Bilder, die seitenlang dumpfe Gefühls- und Ge-
dankengänge übermitteln sollen, das überwuchert in
den beiden nächsten Büchern Stehrs, die des weiteren
echte Produkte des reinen Naturalismus sind, die Hand-
lung vollständig : denn nun sind die Helden des Dichters,
der sich imnier mehr zu sich findet, ihm selber ver-
wandte Träumer und Sinnierer. Dcr „Schindelmacher"
variiert Shakespeares König Lear-Thema, und wenn
eines der größten Dramen der Weltliteratur in dicsem
Stoffe genügend Handlungsfülle fand, hätte er auch wohl
Stehr für eine Novelle genügen können. Als echter
Naturalist unterläßt er es jedoch, die geeignetsten Hand-
lungsmomente herauszuarbeiten, und beginnt die Hand-
lung erst, wo sie fast schon wieder enden muß, unmittel-
bar vor der Zerstörung des Familienbesitzes durch den
erzürnten Vater. Da der um diese Aeit schon ein hoch-
betagter Mann ist, müssen physiologische Gründe sein
letztes Aufbrausen erklären; zur ersten Handlung wird
die Androhung der Rache an den Kindern, zur zweiten
die Verwirklichung der Drohung, und was die 100 Seiten
des Buches sonst noch füllt, sind qualend lange Ein-
leitungsgespräche — als wenn man auf der Bühne wäre,
und nicht sagen könne, was zu sagen ist — Visionen,
Selbstgespräche und ganze Bilderreihen zur Verdeut-
lichung unklarer Gefühlsvorgänge, mühseliger Gedanken-
arbeit. „Nur ganz weit in der Jnnenferne tag in wandel-
loser Ruhe eine blasse Fläche, seine einzige Gesundheit.
Ein zitterndcs Locken hing über ihr, wie winkende, wclke
Arme, ein Himmel, gleich eineni süßbrechenden Auge":
Derartiges unklar Gedachtes unklar lassender Bilder
ist die Novelle voll, und bis zuni Bersten voll Stehrs
erster Roman „Leonore Griebel". Es ist die Geschichte
einer unglückseligen Ehe, einsetzend mit einer höchst
platten Anthropomorphisierung eines Hauses, das
an Stelle eines dämonischen Hundes hier das Schicksal
zu personifizieren hat; die Persönlichkeit des Mannes,
der als ein biederer Bürger ohne irgend welche Mög-
lichkeit zu seelischer Verfeinerung geschildert werden soll,
entzieht sich dem psychologischen Verständnis des gänz-
lich anders gearteten Dichters durchaus und bleibt als
Konstruktion bis zum Schluß immer gleich schattenhaft

und unlebendig, dagegen ist die Frau, die, altadeligem
Geschlecht entstammend, aber in die Niederungen ge-
stoßen, bei völliger Lebens- und Leistungsunfähigkeit
nur in träumerischer Selbstbespiegelung und mystischer
Grübelei über den Sinn ihres Daseins vegetiert, eher er-
lebt und geschaut. Freilich ist eine Frau dieser Art ebenso-
wenig als Heldin einer umfangreichen Dichtung geeignet
wie eine Ophelia, da von ihr keine Bewegung ausgeht,
denkbar höchstens im Mittelpunkt einer schnell verlaufen-
den Novelle in Verbindung mit einem Manne von ent-
schiedener Aktivität. Der Naturalist, dessen Wesen Mangel
an schöpferischer Phantasie und knechtische Abhängigkeit
von der Urform des ihm überlieferten Stoffes ist, muß
solche Frau in einem Roman durch eine Fülle kleinlicher
Szenen des taglichen Lebens von erniedrigender Roheit
schleppcn, von denen nur eine ganz kleine Zahl wahrhaft
nötig und damit wirksam sein kann, und bleibt bei dem
Übermaß des für einen Stoff ohne Handlungsmöglichkeit
zur Verfügung stehenden Raumes doch noch darauf an-
gewiesen, ganze Seiten mit Folgen visionärer Eindrücke
der Träumenden zu süllen. Sprachlich ist gegen früher
nichts Wesentliches gewonnen: Die gleiche zerfetzte
Erzählungsweise, das gleiche laute und harte, oft banale,
oft quälend ungeschickte Deutsch; schlimmer als je der
Widerspruch zwischen der naturalistischen Dialektwieder-
gabe und dem seelischen Jnhalt der Worte. Jmmerhin
enthält auch dieses Buch wenigstens eine Szene von
starker und unmittelbar symbolischer Kraft, die sich schwer
vergißt und damit beweist, daß auch die Odyssee der
Seele, die unsere Aeit neben die griechische setzen möchte,
sehr wohl in packenden außeren Handlungen verlaufen
kann, nur daß die eben seelischen Konflikten Ausdruck
geben.

Dem mystischen Lyrismus, der ihm im „Schindel-
macher" und in der „Leonore" so jede epische Forni über-
wucherte, ging Stehr dann folgerichtig in seinem fünften
Buche zu Leibe, und zwar in der einzigen Art, wie ihni
beizukommen ivar, nämlich indem er ihm ein einzigeö
Mal alles Recht ließ: Die 50 Seiten des „letzten Kindes"
sind eine Art Gedichtes in Prosa von dem Tode eines
Knaben, das Gott selber mit seinen Engeln und Menschen
trübseligster Art in einer Handlung zusammenflicht;
hat der „Graveur" in manchen Augenblicken beinahe
etwas von einer naturalistisch ausgemalten Erzählung
E. T. A. Hoffmanns, so mischt sich hier mit der natura-
listischen Darstellungsweise Jean Paulscher Phantasieflug,
damit im Rahmen einer metaphysischen Dichtung Stehrs
dualistische Weltanschauung einmal bildhaften Ausdruck
bekommt. Die ungeheure Spannung der Seele, der die
Erzählung entstammt, gibt ihr zweifellos an mehr als
einer Stelle etwas Erschütterndes, doch ist sie im Ganzen
in ihrer Jean Paul-Nachfolge letzten Endeö eben doch
zu epigonisch und unoriginell, zu zwiespältig auch in
ihren Formelementen, als daß sie etwas Bleibendcö
darstellte. So ist ihre wesentliche Bedeutung eine ent-
wicklungsgeschichtliche, denn sie allein ermöglicht es
Hermann Stehr, in seinem zweiten Roman, voni „be-
grabenen Gott", der großen epischen Form näher zu
kommen, als je zuvor. Eine Erfüllung ist trotzdem auch
er noch nicht: Sein größter Vorzug ist der, daß die Dar-
stellung nun nicht mehr monographisch der Darstellung
eines cinzigen Menschen gilt, der im Mittelpunkt steht.

no
 
Annotationen