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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 9
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Schmitt, Carl: Kritik der Zeit
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Benn, Joachim: Eine lesbare Edda
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0352

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dieser Art von Kritik ist das „Kapital" von Mar.r. — Die Sache
liegt nun so, daß die Darstellung der zu kritisicrenden Zeit in ihrem
Bestreben, das Wesen der Zeit zu crfasscn, abhängig ist von der
Kritik. Die Kritik bestimmt, was das Wesentliche, das Charakteri-
stische der Zeit ist. Jmmer ergibt sich die Darstellung aus der
Kritik, geht die Cinheitlichkeit von ihr aus, wenn anders Dar:
stellung und Kritik nicht nebeneinander in der Luft schweben sollen.
Das beweist schon die einfache Crwägung! eine Behandlung von
Relativitäten kann sich nicht aus sich selbst über die Relativitäten
erheben, wie es für eine Kritik nötig ist. Sie muß ihre Maße mit:
bringen.

Für Walthcr Rathenau, der in seiner „Kritik der Zeit"* aus der
Darstellung der Zeit jede Wertmessung ausscheiden will, ergibt sich,
daß unser Zeitalter das mechanistische ist. Das mechanistische Zeit:
alter, das von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an zu bcrechnen
und durch die germanischen Dölker Mittelcuropas inauguriert ist,
bedeutet das Zeitalter der Maschine, der Arbeitsteilung und Ar:
beitshäufung, der Cntwicklung des Verkehrs, der Organisation,
des Kapitalismus. Aber alle diese Vieldeutigkeiten können nur
Symptome eines wesentlichen Kernes sein, Erscheinungen einer
Jdee. Wie ist diesc zu finden? Rathenau untcrniinmt eine gene:
tischc Erklärung des inechanistischcn Zeitalters und erhält als Ur-
sachen die Volksvermehrung, die dann in größerem Iusammenhang
steht mit der Rasseneigenart der Völker, die dcn Mechanismus ge:
schaffen haben, und ihrer soziologischen Struktur: sie sind geschichtete
Völker; es läßt sich noch der Unterschied zwischen einer regierendcn
Oberschicht und ciner dienenden Unterschicht erkenncn, deren Gegen:
sah sich auf die charakterologische Antithese von Mut und Furcht
bringen läßt. Die gegenseitige Durchdringung beider Schichten
mit den beiderseitigen Vorzügen hat natürlich ein Vordringen dcr
Unterschicht ergebcn, deren Typus als Zwcckmensch der Zeit ihrcn
Charakter verleiht. Eine glückliche intellektuelle Veranlagung der
beteiligten Völker, die Mischung von Jdealität, wissenschaftlicher
Spezialforschung nnd praktischer Handfertigkeit ermöglichten die
unerwartete Entwicklung der modernen Technik, der Diencrin
des Zweckmenschen und seiner Zweckhaftigkeit. Das mechanistische
Zeitalter ist das Zeitalter der Iweckhaftigkeit, der Begriff dcs
Mechanistischen wird durch dieses Verhältnis zum Zweck konstituiert.
Unsere Zeit hat nur Zwecke, kcine Seele, nur Bewußtheit, kcinc
ethischc Produktivität. Sie ist, um cinen Dichter zu zitieren, „so
falsch, daß sie sich kennen muß". Das bleibt zuleht alS das Wesent-
liche des mechanistischen Zeitalters, daß es sselenlos ist. Und die
Kritik Rathenaus führt es aus, daß uns die Seele fehlt. Damit
ist jcdoch die von Rathenau ausdrücklich verleugnete Abhängigkeit
seiner Darstellung der Zcit von ihrcr Kritik erwiesen, denn dic
Bestimmung als seelenlos ist negativ und bekommt ihren Jnhalt
«rst durch die Fundamentalvorstellung der Kritik: die Seele. Die
Folge dieses Widerspruches ist die, daß die Darstellung der Zeit,
die von eincr großartigen Eleganz und einer erstaunlichen Spann:
weite des Horizontes ist, trotzdem ihr Schwergewicht außer sich
selbst hat und die Eindrucksfülle etwa einer taciteischen Beschreibung
verliert. Und vieles Ergrcifendc, das über die Seelenlosigkeit und
die Sehnsucht unserer Zeit gesagt ist, erscheint nicht als Kritik,
sondern als Klage. Carl Schmitt.

/Aine lesbare Edda

heißt das treffende Schlagwort, unter dem uns der Verlag
Eugen Diederichs eine neue Edda-Ubertragung schcnkt. Nnchdem
der gleiche Derlag eine zchnbandige Übersehung von Kirkegaards
Werken, eine dreiundzwanzigbändige Auswahl dcr Märchen aller
Völker, eine zehnbändige Ausgabe der chinesischen Philosopheu bc-
gonnen hat, leitet cr nüt diesem Bande eine auf vierundzwanzig
Bände berechnete Sanimlung altnordischer Dichtungen cin: Es mag
fraglich sein, ob es dem Menschen unsercr Tage denn wohl wirklich
zum Heil gereicht, daß man ihm derartig die Mittel an die Hand
gibt, sich den Kopf zu zerstören unter dcm Vorwande, ihn zu be-
reicbern, und sich dic Seele zu zcrstreuen nnter dem Vorwande,
sie sich zu sainmeln. Denn der schöpferische Akt, dem als dem
Endziel dcs Lebens auch diese Bücher dienen möchten, im Leben
des Einzelnen „Persönlichkeitsbildung" geheißen, in dem der Völker
„Kulturbildung", ist doch sichcrlich immer noch eher eiu Vergessen
nlles früber Gewesenen als dessen mühselige Wiedergewinnuug:
Nur am Leben gewinnt doch dcr Werdende einen Lebensglauben,

* Derlag S. Fischer, Berlin.

der seinen Handlungen dann Einheit und Stil geben kann. —
Kann man die Gefahr solcher Stapelung von Bildungsmitteln
verneinen, etwa mit dem Hinweis darauf, daß dem Cinzelnen nur
die Wahl-Möglichkeiten vergrößert werden sollen, so muß man
dcm Verlag aber jedenfalls zuerkennen, daß er wie kaum ein
anderer Verlag in Deutsckland unbeirrt durch die Lockungen
leichten Verdiensies bei der Spekulation auf die oberflächlicken oder
absonderlichen Triebe im Menschen den Blick iinmer auf das Be-
dcutende gerichtet, und als die anonyme Firma, die ein Verlag
doch schließlich ist, konseguent Anregungen gegeben hat, wie sie
vorher wobl nur bedeutende Fndividuen zu geben vermocbten.

Eugen Diedcrichs hat auch allmählich gelernt, sicb die geeigneten
Hclfer für seine Pläne heranzuziehen, so daß es ihm nicht mehr
passieren kann, was ihm mit dem ersten Bande seiner Eckebart-
Ausgabe geschahi baß die Kenner Zweifel hegten, ob wirklich viele
Zeilen von Eckehart darin seien. Für diesen Band zeichnen verant-
wortlich als Herausgeber Prof. Felir Nicdner, als Übcrseher Felir
Genzmer, als Einleiter und Kommentator Andreas Heusler; die
Tätigkcit des Herausgebers wird nicht sichtbar, es sei denn in der
Auswahl der Gesänge, der Überseher und der Kommentator haben
jedenfalls Außerordentlichss geleistet. Die Heldenlieder aus der
Edda sind hier wirklich lesbar und zwar lesbare Dichtung geblieben,
ihre nltnordischen Verse sind in ihrer hämmernden und donnernden
Wucht ebensowohl wie in der Bewegtheit ihres höcbst lebendigen
Nhythmus erhalten wie bisher nirgends; sie lesen sich nicbt als
Übersehungen, sondern als Original-Dichtungen und geben unserem
durch die Sorge des frommen Kaisers Ludwig von semen Helden
abgeschnittenen Volke so die Möglichkeit, doch noch in unsere
Heldenzeit zurückzuschauen. (Denn wenn diese Dicbtungen aucb in
dieser Form späterer Zeit entstammen, so gehen sic ibrem seeliscben
Kerne nach ja auf die vorchristliche Zeit zurück.) — Dem Übcrseher
tritt gleich fähig der Kommentator an die Seite, in dem wir einen
Literaturhistoriker kennen lernen, wie es deren Leute zu wenig
gibt: Nicht aus historischem Jntercsse dieser Dicbtung zugewandt,
sondern aus der Anteilnahme einer lebendigen Natur an Natur-
ergebnissen, die seiner eigenen Organisation entsprechen, ist er
auch in seinem ästhetischen Gefühl lebendig, dem Ganzen und
Wesentlichcn zugewnndt, nicht Historikcr, aber auch wieder nicbt
Asthet und doch durchaus ästhetisch. Der Verfasser der Stilanalysen
dieses Buches, der glänzenden Darlegung über die literarische Ent-
wicklung von der reinen Form der Erzählung zur cpisch-dramatiscb-
lyrischen Mischform, wis sie sich schon im Rahmcn dieser Cpoche
findct, sollte den Vertrctern der „neueren Literatur" doch einmal
zeigen, wic auch sie sicb mit ihrem Gebict zu beschäftigen hätten.

Man braucht freilich nur in diesem Bande, den inan sich für
drei Mark kaufen sollte,* das Wölundslied und das Lied von der
Hunnenscklacht, brauckt nur das alte Sigurd-, Atli-, Hamdirlied,
dazu Gudruns Gottesurteil, Oddruns Klage, das Mühlenlied zu
lesen, um zu erkennen, daß sich jemand schwerlich noch cinmal aus
diesem Revier herausmachen wird, wenn er sich dort einmal ein-
gehaust hat. Wir wollen nicht müde Lobpreisner vergangener Zeit
wcrden, mutig zu uns selber stehen und uns bestätigen, wie wunder-
volle Reize seelischer und formaler, geistiger Differenziertheit solchcr
Frühdichtung gegenüber nicht etwa erst das Neueste bietet, sondern
schon ein Akt aus Goethes Faust, eine Novelle Kleists: Aber wie
sehr Differenzierung doch auch schlechtweg Degenerierung ist,
das kann solch Buch doch lehren. Hier dicbtet die Mannhaftigkcit,
ja die Heldenhaftigkeit, und die inneren Kämpfc, von denen sie
dichtet — und es sind immer innere Kampfe, Leiden und Freuden,
nicht ctwa äußere Gescbehnisse — sind mächtig wie Naturereignisse,
wie Feuersbrunst und Wassernot, wic Blihschlag, wie Bergsturz.
Gleich dem Dichter selber, der deshalb auch immer nur auf das
Wesentliche gerichtet ist, sind die Menschen, von denen er berichtet,
noch ganz massig und ungeteilt; wenn sie weinen, weinen sie gleich-
sam gleich ganze Regenströme, wenn sie lieben, scblägt wirklich
plöhlich Lohe aus ihnen cmpor: Cs sind wirklich Gestalten, während
die heutigen Menschen so vielfach nur Stiinmungskomplere sind;
sie stehen wie Riesensäulen vor einem feuerflackernden Himmel.
Man glaubt ihncn, daß sie, tot, in Grabhügel sinken, die weit
größer als unsere sind, und wenn sie heute iu unsere Häuser
träten, fegten sie mit der Stirn die Querbalken unsercr Türchen
fort: So verschieden ist die Stelle, an die uns Menschen das Ge-
schick im Rahmen der zeitlichcn Cntwicklung stellt. I. Benn.

* Verlag Cugert Diederichs, Jena, Band I der Sammlung
Thule.

Verantwortlich: Wilhelm Schäfer. — Druck und Verlag: A. Bagel, Drisieldorf. — Kunstdruckpapier! I. W. Zanders, B.-Gladbach.
Alle redaktionellen Sendungen sind an dcn Herausgebcr Wilhelm Schäfer in Vallendar a. Nh. crbeten.

Fllr unverlangte Manuskripte und Nezensionseremplare wird keinc Verpfiichtung llbcrnommen. Rückporto ist beizulegen.
 
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