Über die Variation.
Schwung und Wölbung. Der Rhythmus dagegen ist
ohne Höhe und Tiefe, er ist einrei n zeitliches Geschehen.
Das ist der Takt ja ebenfalls; dennoch unterscheiden sich
beide sehr wesentlich von einander. Jede Taktart läßt
eine Fülle von Rhythmen zu; und ich kann einen und
denselben Rhythmus innerhalb ganz verschiedener Takt-
arten unterbringen. Daraus geht hervor, daß die Takt-
arten nicht etwa Gattungen sind, aus welchen die
einzelnen Rhythmen sich herleiten, wie die Spezies aus
dem Genus, oder das einzelne Eremplar aus der Spezies.
Jede Taktart hat zwar verschiedene Betonungen, so-
genannte gute und schlechte, d. h. starke und schwache
Taktteile (das Wort: schlecht hat hier den Sinn des
früheren Sprachgebrauchs schlicht, einfach, anspruchslos).
Somit hat auch der Takt Gliederung und Ordnung.
Stelle ich mir aber eine Taktart vor, z. B. den V» Takt:
5 ^ ^ fehlt mir was zu cineni
geordneten Geschehen gehört, nämlich ein Abschluß; es
geht immer weiter: 1234 ! 1234, ohne Ende; ja,
eigentlich ist dann auch der Anfang nicht vorhanden, er
ist willkürlich; der Takt selbst ist unendlich auch nach der
Vergangenheit: nurdaslaute Aählen, oder
dieVorstellungdesTakts hatte einen Anfang.
Ganz anders der Rhythmus, er hat einen Anfang und
ein Ende, er ist kein zufälliger und gleichgültiger Aus-
schnitt aus einem llnendlichen, sondern er entspringt
einer cntschlossenen und krästigen Wahl aus vielen Mög-
lichkeiten als ein Gebilde, eine Tat des menschlichen
Geistes. Der Takt dagegen ist keine Tat, sondern eine
Eigenschaft unseres Geistes; kein gegliedertes Geschehen,
sondern das Gesetz eines Geschehens, wie die Tonleiter
keine Melodie, sondern das System der Melodik ist.
Die Macht des Rhythmus hat also Beethoven be-
sonders zu seinem Dienst herangezogen. Spielt man
nur einmal die erste der berühmten 32 Variationen über
den Walzer von Diabelli, so hat man schon den völligen
Eindruck des gewaltigen und kühnen Griffs, mit welchem
Beethoven die Themen anfaßt, um sie umzuformen und
in andere Sphären zu versetzen oder emporzureißen. Das
hübsche, doch unscheinbare Thema nimmt sich dabei aus
wie der kleine Ganymed in den Klauen des Adlers. Ein
anderes Beispiel einer zwar weniger gewaltsamen, aber
doch gewaltigen Veränderung, welche der Charakter des
Themas erfährt, ist die fünfte der l?-änr-Variationen
op. 34.
Jn der letzten der ^.s-äur-Variationen, von denen
unsere Betrachtung ausgeht, findet eine eigentünilichc
Vermischung von melodischer und rhythniischer Variation
statt. Die Melodie schwebt hier nicht über der Harmonie,
sondern sie wird in die Begleitung aufgenonimen, läßt sich
von ihr umhüllen. Das ist ähnlich wie bei der zweiten
Variation des vss-clnr-Themas (Mittelsatz der Lonata
appLssionatL in l?-mo1l op. 57). Die Melodie versteckt
sich dort sozusagen in der Begleitung, zugleich geht ihr
klarer Rhythmus verloren, indem die melodiebildenden
Töne sich nicht regelmäßig folgen, sondern hier auf die
betonte, dort wieder auf die unbetonte Aeit einfinden.
Aur Verdeutlichung spiele man diese Variation ohne die
geschilderte Verschiebung. Viele Klavierspieler wollen
an dieser Stelle die Melodie herausheben, das Versteckte
herausholen, und sie betonen zu diesem Aweck jeden
Melodieschritt, ob er nun auf eine betonte oder unbetonte
Taktzeit fällt. Dadurch entsteht aber eine unangenehm
verzerrte, aufdringlich deutliche Melodie, während doch
die Melodie hier wie durch einen leichten Schleier hin-
durch, oder wie das Abbild eines ruhigen Gegenstandes
in einem leicht bewegten Wasserspiegel gesehen sein will.
Jn dem ersten Teil unserer ^s-äur-Variation kommen
die Melodieschritte stets auf die unbetonte Aeit, meistens
zugleich durch einen Vorhalt oder Vorschlag der oberen
Nebennote verzögert. Damit ist etwa noch die letzte
Variation des L-äur-Themas (Mittelsatz der 6 - clur-
Sonate op. 14) zu vergleichen. A. Halm.
(Ein zweiter Aufsatz folgt.)
egriff.'
Jch habe (Kr. d. Spr. III, 265 ff.) ausführlich
darzulegen versucht, wie verkehrt die Rangordnung ist, in
welche der Begriff der formalen Logik herkömmlich ein-
gereiht wird. Riehl hat diese Umwertung am kürzesten
ausgesprochen durch den Satz: „Begriffe sind potentielle
Urteile", d. h. alle Urteile, nicht nur die analytischen,
sind in ihrem Subjektsbegriffe schon enthalten. Jch habe
gezeigt, daß die Begriffe oder Worte der Gemeinsprache
aus ihren Umfängen entstanden sind, nicht aus ihren
Jnhalten, daß die Begriffsumfänge in den verschiedenen
Jndividualsprachen und nun gar in den verschiedenen
Volkssprachen verschieden sind, daß also die Logik gar
nicht in der Lage war, mit ihren Begriffen als wie mit
konventionellen und darum eindeutigen mathematischen
Aeichen sicher zu operieren. Die mathematischen Aeichen
sind ihrem Wesen nach univok, die Worte der Gemein-
sprache sind immer äquivok. Jch habe darauf hinge-
wiesen, daß der scholastische Mißbrauch der Logik, die
Verwechslung der Möglichkeiten sprachlicher Darstellung
mit den Möglichkeiten der mathematischen, welche Ver-
wechslung sich dann noch an der Form von Spinozas
Lebenswerke so ärgerlich rächte, bis in die Neuzeit hinein
durch den ausschließlichen Gebrauch einer toten Sprache
unterstützt wurde, daß die tote Sprache und bald darauf
die formale Logik preisgegeben werden mußten, weil
mit der Ersorschung der Wirklichkeitswelt oder mit der
Naturwissenschaft Ernst gemacht wurde. Jch habe an
den Artbegrisfen zu erklären versucht, warum unsere
Worte den Jdealbegriffen der Logik nicht entsprechen
und niemals entsprechen können. Jch möchte nun etwas
über die psychologische Tätigkeit hinzufügen, die wir „be-
greifen" nennen. Freilich können wir Menschen dadurch,
daß wir eine Naturerscheinung auf einen Begriff bringen,
über den Sinneseindruck hinaus zum Ding-an-sich der
Erscheinung nicht vordringen, wie so ungefähr von der
Mehrzahl der Philosophen geglaubt worden ist. Der
psychologische Vorgang erscheint aber doch viel einfacher,
wenn man ihn mit einfachen Worten darzustellen wagt.
Als Gegensatz denke man an den selbstbewußten Lambert,
der meinte: eine Sache begreifen heißt, sich selbige so
vorstellen, daß man die Sache für das ansieht, was sie ist.
* Aus Fritz Mauthners WLrterbuch der Philosophie (Verlag
Gg. Müller, München). Siehe Besprechung am Schluß des Heftes.
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Schwung und Wölbung. Der Rhythmus dagegen ist
ohne Höhe und Tiefe, er ist einrei n zeitliches Geschehen.
Das ist der Takt ja ebenfalls; dennoch unterscheiden sich
beide sehr wesentlich von einander. Jede Taktart läßt
eine Fülle von Rhythmen zu; und ich kann einen und
denselben Rhythmus innerhalb ganz verschiedener Takt-
arten unterbringen. Daraus geht hervor, daß die Takt-
arten nicht etwa Gattungen sind, aus welchen die
einzelnen Rhythmen sich herleiten, wie die Spezies aus
dem Genus, oder das einzelne Eremplar aus der Spezies.
Jede Taktart hat zwar verschiedene Betonungen, so-
genannte gute und schlechte, d. h. starke und schwache
Taktteile (das Wort: schlecht hat hier den Sinn des
früheren Sprachgebrauchs schlicht, einfach, anspruchslos).
Somit hat auch der Takt Gliederung und Ordnung.
Stelle ich mir aber eine Taktart vor, z. B. den V» Takt:
5 ^ ^ fehlt mir was zu cineni
geordneten Geschehen gehört, nämlich ein Abschluß; es
geht immer weiter: 1234 ! 1234, ohne Ende; ja,
eigentlich ist dann auch der Anfang nicht vorhanden, er
ist willkürlich; der Takt selbst ist unendlich auch nach der
Vergangenheit: nurdaslaute Aählen, oder
dieVorstellungdesTakts hatte einen Anfang.
Ganz anders der Rhythmus, er hat einen Anfang und
ein Ende, er ist kein zufälliger und gleichgültiger Aus-
schnitt aus einem llnendlichen, sondern er entspringt
einer cntschlossenen und krästigen Wahl aus vielen Mög-
lichkeiten als ein Gebilde, eine Tat des menschlichen
Geistes. Der Takt dagegen ist keine Tat, sondern eine
Eigenschaft unseres Geistes; kein gegliedertes Geschehen,
sondern das Gesetz eines Geschehens, wie die Tonleiter
keine Melodie, sondern das System der Melodik ist.
Die Macht des Rhythmus hat also Beethoven be-
sonders zu seinem Dienst herangezogen. Spielt man
nur einmal die erste der berühmten 32 Variationen über
den Walzer von Diabelli, so hat man schon den völligen
Eindruck des gewaltigen und kühnen Griffs, mit welchem
Beethoven die Themen anfaßt, um sie umzuformen und
in andere Sphären zu versetzen oder emporzureißen. Das
hübsche, doch unscheinbare Thema nimmt sich dabei aus
wie der kleine Ganymed in den Klauen des Adlers. Ein
anderes Beispiel einer zwar weniger gewaltsamen, aber
doch gewaltigen Veränderung, welche der Charakter des
Themas erfährt, ist die fünfte der l?-änr-Variationen
op. 34.
Jn der letzten der ^.s-äur-Variationen, von denen
unsere Betrachtung ausgeht, findet eine eigentünilichc
Vermischung von melodischer und rhythniischer Variation
statt. Die Melodie schwebt hier nicht über der Harmonie,
sondern sie wird in die Begleitung aufgenonimen, läßt sich
von ihr umhüllen. Das ist ähnlich wie bei der zweiten
Variation des vss-clnr-Themas (Mittelsatz der Lonata
appLssionatL in l?-mo1l op. 57). Die Melodie versteckt
sich dort sozusagen in der Begleitung, zugleich geht ihr
klarer Rhythmus verloren, indem die melodiebildenden
Töne sich nicht regelmäßig folgen, sondern hier auf die
betonte, dort wieder auf die unbetonte Aeit einfinden.
Aur Verdeutlichung spiele man diese Variation ohne die
geschilderte Verschiebung. Viele Klavierspieler wollen
an dieser Stelle die Melodie herausheben, das Versteckte
herausholen, und sie betonen zu diesem Aweck jeden
Melodieschritt, ob er nun auf eine betonte oder unbetonte
Taktzeit fällt. Dadurch entsteht aber eine unangenehm
verzerrte, aufdringlich deutliche Melodie, während doch
die Melodie hier wie durch einen leichten Schleier hin-
durch, oder wie das Abbild eines ruhigen Gegenstandes
in einem leicht bewegten Wasserspiegel gesehen sein will.
Jn dem ersten Teil unserer ^s-äur-Variation kommen
die Melodieschritte stets auf die unbetonte Aeit, meistens
zugleich durch einen Vorhalt oder Vorschlag der oberen
Nebennote verzögert. Damit ist etwa noch die letzte
Variation des L-äur-Themas (Mittelsatz der 6 - clur-
Sonate op. 14) zu vergleichen. A. Halm.
(Ein zweiter Aufsatz folgt.)
egriff.'
Jch habe (Kr. d. Spr. III, 265 ff.) ausführlich
darzulegen versucht, wie verkehrt die Rangordnung ist, in
welche der Begriff der formalen Logik herkömmlich ein-
gereiht wird. Riehl hat diese Umwertung am kürzesten
ausgesprochen durch den Satz: „Begriffe sind potentielle
Urteile", d. h. alle Urteile, nicht nur die analytischen,
sind in ihrem Subjektsbegriffe schon enthalten. Jch habe
gezeigt, daß die Begriffe oder Worte der Gemeinsprache
aus ihren Umfängen entstanden sind, nicht aus ihren
Jnhalten, daß die Begriffsumfänge in den verschiedenen
Jndividualsprachen und nun gar in den verschiedenen
Volkssprachen verschieden sind, daß also die Logik gar
nicht in der Lage war, mit ihren Begriffen als wie mit
konventionellen und darum eindeutigen mathematischen
Aeichen sicher zu operieren. Die mathematischen Aeichen
sind ihrem Wesen nach univok, die Worte der Gemein-
sprache sind immer äquivok. Jch habe darauf hinge-
wiesen, daß der scholastische Mißbrauch der Logik, die
Verwechslung der Möglichkeiten sprachlicher Darstellung
mit den Möglichkeiten der mathematischen, welche Ver-
wechslung sich dann noch an der Form von Spinozas
Lebenswerke so ärgerlich rächte, bis in die Neuzeit hinein
durch den ausschließlichen Gebrauch einer toten Sprache
unterstützt wurde, daß die tote Sprache und bald darauf
die formale Logik preisgegeben werden mußten, weil
mit der Ersorschung der Wirklichkeitswelt oder mit der
Naturwissenschaft Ernst gemacht wurde. Jch habe an
den Artbegrisfen zu erklären versucht, warum unsere
Worte den Jdealbegriffen der Logik nicht entsprechen
und niemals entsprechen können. Jch möchte nun etwas
über die psychologische Tätigkeit hinzufügen, die wir „be-
greifen" nennen. Freilich können wir Menschen dadurch,
daß wir eine Naturerscheinung auf einen Begriff bringen,
über den Sinneseindruck hinaus zum Ding-an-sich der
Erscheinung nicht vordringen, wie so ungefähr von der
Mehrzahl der Philosophen geglaubt worden ist. Der
psychologische Vorgang erscheint aber doch viel einfacher,
wenn man ihn mit einfachen Worten darzustellen wagt.
Als Gegensatz denke man an den selbstbewußten Lambert,
der meinte: eine Sache begreifen heißt, sich selbige so
vorstellen, daß man die Sache für das ansieht, was sie ist.
* Aus Fritz Mauthners WLrterbuch der Philosophie (Verlag
Gg. Müller, München). Siehe Besprechung am Schluß des Heftes.
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