Die Kinematographen-Frage.
Was aber sollen sie spielen? Daß der Kinematograph
mit naturwissenschaftlichen, geographischen, technologi-
schen Vorführungen wirklich sehr Jnteressantes und
pädagogisch Wertvolles bieten kann, das habcn wir vorher
schon bestätigt. Aber selbst im Verein mit dem Pathe-
Journal, der Vorführung der Tagesereignisse, und selbst
bei geschicktester Ausammenstellung wird das Repertoire
dieser Bühnen mit den aufregenden Greueln der Film-
dramatik nicht konkurrenzfähig sein. Gibt es also eins
Möglichkeit, das Repertoire des Kultur-Kientopps mit
rein vergnüglichen, die Schaulust anreizenden, die Phan-
tasie beschäftigenden Stücken auszustatten, die gleichwohl
nicht kulturfeindlich, nicht gefühlsverrohend wirken?
Jch glaube, es gibt einen Weg, aber um ihn recht zu er-
kennen, müssen wir noch einmal auf die Grundlage der
kinematographischen Kunst eingehen.
Das Wesen der kinematographischen Technik besteht
darin, daß so viele Bilder einer bestimmten Handlungs-
folge aufgenommen werden und diese so schnell wieder
vorgeführt werden können, daß der Schein einer zu-
sammenhängenden Handlung für den Auschauer entsteht.
Gerade damit ist das Kriterium des „Theaters" ge-
geben; das ist es, was Oper, Schauspiel und Pantomime
als Theater zusammenfaßt, und unsere Verwaltungs-
juristen irrten durchaus, wenn sie um des fehlenden
Wortes oder der feblenden Körperlichkeit der Dar-
stellung willen in der Filmbühne kein „Theater" sehen
wollten. Aber das Theatralische an sich, die Vorspiege-
lung einer Handlungsfolge bedeutet noch keinen künst-
lerischen Wert; das Künstlerische wird erst hineinge-
tragen, indem das Wort, der Ton oder die Bewegung
die Handlung rhythmisieren, sie vorbildlich, sinnbildlich
machen. Es geschieht dies, indem der betreffende Künstler
die Handlungsfolge ganz im Sinns eines bestimmten, ihm
vor allem vertrauten Materials durchbildet, ihr alle Mög-
lichkeiten entlockt, die für den sprechenden Geist, das
empfängliche Ohr oder das nachtastende Körpergefühl in
einem Vorgang sein könnte. Dadurch, daß das Filni-
theater ohne über das Mittel des Wortes zu verfügen, die
Handlung der sprechenden Schaubühne, des Dramas
nachahmte, dadurch, daß es auch psychische Verwicklungen
und Wandlungen, sittliche Katastrophen und Ver-
klärungen darzustellen unternahm, Dinge, die nur deni
geistigen Wort deutbar sind, dadurch ist es in diese ent-
setzliche Bedeutungslosigkeit, Roheit, Sinnlosigkeit ver-
fallen. EtwaS spezifisch Künstlerisches könnte der Filni-
poet also nur leisten, wenn er nicht mit dem Dramatiker
konkurriert, sondern aus seinem besonderen Material
eine ganz besondere Art Handlung zu erfinden und dar-
zustellen entwickelt. Und tatsächlich gibt der kinemato-
graphische Apparat nicht nur die rohe Möglichkeit, Hand-
lungen vorzutäuschen, er gibt dem menschlichen Witz,
der menschlichen Phantasie eine ganz bestimmte Möglich-
keit, diese Handlnngen zu gestalten, eiue spezifische, von
keinem anderen Werkzeug gebotene und also wertvolle
Möglichkeit. Der Apparat nämlich, der uns durch
schnelles Abrollen einer Bilderfolge die Jllusion eines
Vorganges gibt, läßt uns doch alle Freiheit bezüglich der
Anordnung, der Richtung und der Schnelligkeit, in der
ich die Bilder vorführe. Und da ich die tollsten Um-
stellungen vornehmen, die unwahrscheinlichsten Tempi-
wechsel einschalten kann, so werde ich in der Welt deS
Scheins zum souveränen Herrn über Raum und
Aeit. Die heutige Filmbühne kennt diese Möglichkeiten
schon, wenn sie auch von der Tyrannei der falschen Dra-
matik noch erdrückt sind. Es ist statt des hoffnungslos
rohen Wahrscheinlichkeitsspiels mit menschlichen Seelen-
werten — die toll entfesselte Phantasie der Dinge und
Körper. Der vom Gassenjungen aufgedrehte Hydrant,
der Decken und Böden eines Mietshauses durchschlägt,
und diese friedliche Wohnstätte in eine Terrassenkaskade
verwandelt, ist noch ein harmloses Beispiel. Der auto-
matische Umzug, in dem alle Möbel von selbst sich auf
den Platz stellen, führt schon einen Schritt weiter. Der
Käse, der im Rock seines Herrn sich im Ballsaal mißliebig
macht, schließlich auSrückt, nach Hause läuft und in seine
Glasglocke zurückklettert, die dicke alte Waschfrau, die
plötzlich die ungeheuerste Schnelligkeit gewinnt, und eine
Schnellzugslokomotive überholt — vollends die rätsel-
hafte Stadt, in der alle Menschen auf den Köpfen gehen,
der wütende Fluß, der durchaus bergauf läuft, sie zeigen,
was die spezifische Möglichkeit des Filmtheaters ist:
Märchendichtung. Die Aufhebung der uns bekannten
Kausalgesetze, das tolle Uberspringen aller räumlichen
und zeitlichen Schranken, das bildet ja das Wesen aller
Märchenphantasie. Die Möglichkeit, diese Dichtung
aus der sprachlichen Schilderung, aus dem Buch in eine
sichtbare Folge zu erheben, die hat der Kinematograph
geschaffen. So gewiß auf dem Sprechtheater der Men-
schendarstellung die Märchenpoesie immer nur eine ganz
unglückliche Nolle spielen kann, weil sie gegen das Gesetz
dieses Hauses, das Gesetz der Kausalität, das der sprechende
Geist gibt, verstößt, und weil ihr Gesetz, das Gesetz
zügellosester Wandlung, immer nur ganz unvollkommen
befolgt werden kann, so gewiß ist das Filmtheater der
natürliche Ort eines Märchendichters, der imstande ist,
seinen Stoff aus den sprachlichen Rhythmen in wohl-
gemessene Handlungsfolgen zu übersetzen. Nach der
grotesken und humoristischen Seite hin ist diese Fähigkeit
der Filmbühnen in vielen, prächtigen Stücken schon be-
wiesen, sie wird nach der lieblichen und rührenden Seite
zu entfalten sein, wenn wirklich künstlerische Hände den
neuen Apparat einmal mit klarer Einsicht in seinen
spezifischen Möglichkeiten ergreifen.
Als Märchentheater hat das Kinematographenhaus
eine künstlerische Aukunft. Und wenn es diese Qualität
mit den anderen nützlichen oder unschädlichen Fähig-
keiten des Kinematographen verbindet, so wird hier
vielleicht die große wirksame Konkurrenz erstehen, die es
am besten vermögen wird, die verderblichen Greuel der
Filmdramatik zu besiegen. Iulius Bab.
ritische Wirksamkeit.*
Wenn ich hier über Speidel ein Wort sage,
so betrete ich nur scheinbar das Gebiet dcs
dramaturgischen Neferenten. Denn es kommt mir
nicht darauf an, der kritischen Leistung Speidels im
Einzelnen und Besonderen nachzugehen, sondern mich
* Anläßlich des viertcn Bandes, „Schauspieler", von Ludwig
Speidels Schriften (Meyer L Jesftn, Berlin).
Was aber sollen sie spielen? Daß der Kinematograph
mit naturwissenschaftlichen, geographischen, technologi-
schen Vorführungen wirklich sehr Jnteressantes und
pädagogisch Wertvolles bieten kann, das habcn wir vorher
schon bestätigt. Aber selbst im Verein mit dem Pathe-
Journal, der Vorführung der Tagesereignisse, und selbst
bei geschicktester Ausammenstellung wird das Repertoire
dieser Bühnen mit den aufregenden Greueln der Film-
dramatik nicht konkurrenzfähig sein. Gibt es also eins
Möglichkeit, das Repertoire des Kultur-Kientopps mit
rein vergnüglichen, die Schaulust anreizenden, die Phan-
tasie beschäftigenden Stücken auszustatten, die gleichwohl
nicht kulturfeindlich, nicht gefühlsverrohend wirken?
Jch glaube, es gibt einen Weg, aber um ihn recht zu er-
kennen, müssen wir noch einmal auf die Grundlage der
kinematographischen Kunst eingehen.
Das Wesen der kinematographischen Technik besteht
darin, daß so viele Bilder einer bestimmten Handlungs-
folge aufgenommen werden und diese so schnell wieder
vorgeführt werden können, daß der Schein einer zu-
sammenhängenden Handlung für den Auschauer entsteht.
Gerade damit ist das Kriterium des „Theaters" ge-
geben; das ist es, was Oper, Schauspiel und Pantomime
als Theater zusammenfaßt, und unsere Verwaltungs-
juristen irrten durchaus, wenn sie um des fehlenden
Wortes oder der feblenden Körperlichkeit der Dar-
stellung willen in der Filmbühne kein „Theater" sehen
wollten. Aber das Theatralische an sich, die Vorspiege-
lung einer Handlungsfolge bedeutet noch keinen künst-
lerischen Wert; das Künstlerische wird erst hineinge-
tragen, indem das Wort, der Ton oder die Bewegung
die Handlung rhythmisieren, sie vorbildlich, sinnbildlich
machen. Es geschieht dies, indem der betreffende Künstler
die Handlungsfolge ganz im Sinns eines bestimmten, ihm
vor allem vertrauten Materials durchbildet, ihr alle Mög-
lichkeiten entlockt, die für den sprechenden Geist, das
empfängliche Ohr oder das nachtastende Körpergefühl in
einem Vorgang sein könnte. Dadurch, daß das Filni-
theater ohne über das Mittel des Wortes zu verfügen, die
Handlung der sprechenden Schaubühne, des Dramas
nachahmte, dadurch, daß es auch psychische Verwicklungen
und Wandlungen, sittliche Katastrophen und Ver-
klärungen darzustellen unternahm, Dinge, die nur deni
geistigen Wort deutbar sind, dadurch ist es in diese ent-
setzliche Bedeutungslosigkeit, Roheit, Sinnlosigkeit ver-
fallen. EtwaS spezifisch Künstlerisches könnte der Filni-
poet also nur leisten, wenn er nicht mit dem Dramatiker
konkurriert, sondern aus seinem besonderen Material
eine ganz besondere Art Handlung zu erfinden und dar-
zustellen entwickelt. Und tatsächlich gibt der kinemato-
graphische Apparat nicht nur die rohe Möglichkeit, Hand-
lungen vorzutäuschen, er gibt dem menschlichen Witz,
der menschlichen Phantasie eine ganz bestimmte Möglich-
keit, diese Handlnngen zu gestalten, eiue spezifische, von
keinem anderen Werkzeug gebotene und also wertvolle
Möglichkeit. Der Apparat nämlich, der uns durch
schnelles Abrollen einer Bilderfolge die Jllusion eines
Vorganges gibt, läßt uns doch alle Freiheit bezüglich der
Anordnung, der Richtung und der Schnelligkeit, in der
ich die Bilder vorführe. Und da ich die tollsten Um-
stellungen vornehmen, die unwahrscheinlichsten Tempi-
wechsel einschalten kann, so werde ich in der Welt deS
Scheins zum souveränen Herrn über Raum und
Aeit. Die heutige Filmbühne kennt diese Möglichkeiten
schon, wenn sie auch von der Tyrannei der falschen Dra-
matik noch erdrückt sind. Es ist statt des hoffnungslos
rohen Wahrscheinlichkeitsspiels mit menschlichen Seelen-
werten — die toll entfesselte Phantasie der Dinge und
Körper. Der vom Gassenjungen aufgedrehte Hydrant,
der Decken und Böden eines Mietshauses durchschlägt,
und diese friedliche Wohnstätte in eine Terrassenkaskade
verwandelt, ist noch ein harmloses Beispiel. Der auto-
matische Umzug, in dem alle Möbel von selbst sich auf
den Platz stellen, führt schon einen Schritt weiter. Der
Käse, der im Rock seines Herrn sich im Ballsaal mißliebig
macht, schließlich auSrückt, nach Hause läuft und in seine
Glasglocke zurückklettert, die dicke alte Waschfrau, die
plötzlich die ungeheuerste Schnelligkeit gewinnt, und eine
Schnellzugslokomotive überholt — vollends die rätsel-
hafte Stadt, in der alle Menschen auf den Köpfen gehen,
der wütende Fluß, der durchaus bergauf läuft, sie zeigen,
was die spezifische Möglichkeit des Filmtheaters ist:
Märchendichtung. Die Aufhebung der uns bekannten
Kausalgesetze, das tolle Uberspringen aller räumlichen
und zeitlichen Schranken, das bildet ja das Wesen aller
Märchenphantasie. Die Möglichkeit, diese Dichtung
aus der sprachlichen Schilderung, aus dem Buch in eine
sichtbare Folge zu erheben, die hat der Kinematograph
geschaffen. So gewiß auf dem Sprechtheater der Men-
schendarstellung die Märchenpoesie immer nur eine ganz
unglückliche Nolle spielen kann, weil sie gegen das Gesetz
dieses Hauses, das Gesetz der Kausalität, das der sprechende
Geist gibt, verstößt, und weil ihr Gesetz, das Gesetz
zügellosester Wandlung, immer nur ganz unvollkommen
befolgt werden kann, so gewiß ist das Filmtheater der
natürliche Ort eines Märchendichters, der imstande ist,
seinen Stoff aus den sprachlichen Rhythmen in wohl-
gemessene Handlungsfolgen zu übersetzen. Nach der
grotesken und humoristischen Seite hin ist diese Fähigkeit
der Filmbühnen in vielen, prächtigen Stücken schon be-
wiesen, sie wird nach der lieblichen und rührenden Seite
zu entfalten sein, wenn wirklich künstlerische Hände den
neuen Apparat einmal mit klarer Einsicht in seinen
spezifischen Möglichkeiten ergreifen.
Als Märchentheater hat das Kinematographenhaus
eine künstlerische Aukunft. Und wenn es diese Qualität
mit den anderen nützlichen oder unschädlichen Fähig-
keiten des Kinematographen verbindet, so wird hier
vielleicht die große wirksame Konkurrenz erstehen, die es
am besten vermögen wird, die verderblichen Greuel der
Filmdramatik zu besiegen. Iulius Bab.
ritische Wirksamkeit.*
Wenn ich hier über Speidel ein Wort sage,
so betrete ich nur scheinbar das Gebiet dcs
dramaturgischen Neferenten. Denn es kommt mir
nicht darauf an, der kritischen Leistung Speidels im
Einzelnen und Besonderen nachzugehen, sondern mich
* Anläßlich des viertcn Bandes, „Schauspieler", von Ludwig
Speidels Schriften (Meyer L Jesftn, Berlin).