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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 1
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Bab, Julius: Vom Wesen der Kritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0042

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om Wesen der Kritik.*

Krilisieren heißl scheiden, trennen. Es kann
also als geistige Funktion nur dieBewältig ung
eines Gesetzten durch begrifsliche Aerlegung
bedeuten. Jm Gegensatz zur Erfassung durch künstlerische
Gestaltung.

Kritisieren, zerlegen kann ich die Gebilde des gleichen
Stoffs nach verschiedenen Gesichtspunkten sehr ver-
schieden Als Volkswirt „kritisiere" ich die neue Leistung
eines Tierzüchters anders als der Aoologe — ich gliedere
sie andern Erkenntnisgruppen ein, weil eine andere
Aweckidee mich treibt, und weil ohne solch treibenden
Willen im letzten Grunde alles, die „reine" Kunst wie
die „objektive" Wissenschaft, zur sinn- und wertlosen
Spielerei wird. Eine künstlerische Hervorbringung
kann von sehr vielen Standpunkten aus kritisiert werden;
die am häufigsten eingenommenen sind: der ästhetische
und der kulturhistorische. Der Asthetiker betrachtet
das Kunstwerk an sich, er will durch Aerlegung „ent-
scheiden" (!), ob und wieweit und wodurch eine Wirkung,
wie wir sie „künstlerisch" nennen, überhaupt zustande
kam. Der Kulturhistoriker nimmt die Eristenz der
künstlerischen Leistung einfach hin und gliedert sie dem
größeren Kreisc gleichzeitiger Lebensäußerungen ein,
in welchem ein Kunstwerk durch Vergleichung mit
religiösen, wissenschaftlichen, sozialethischen, politischen,
ökonomischen Werten gemessen und erkannt wird. Jch
bin nun keineswegs in dem Sinne und Grade ein An-
hänger des l'urti xoui- 1'art, daß ich ästhetische Kritik
eines Kunstwerks für die einzig erlaubte und förderliche
hielte; im Gegenteil scheint es mir höchst nötig, immer
wieder den Blick darauf zu richten, daß die Kunst ihren
treibenden Säften und ihren Früchten nach doch nur
ein Ast am großen Baum deS Lebens ist, dessen ungeheure
Breite am ehesten ein kulturgeschichtlich gerichteter
Blick umspannt. Eine Kunst, die vergißt, wie sie ganz
oder gar durch das Leben und für das Leben ist, die
das „Kulturgewissen" verliert, verkümmert schnell zu
einem müßigen Spiel. Die kulturpsychologische Kritik
des Kunstwerks darf also nicht fehlen. Anderseits muß
zweierlei festgehalten werden: die Kritik eines Kunst-
werks darf schließlich nicht ganz ohne jede ästhetische
Betrachtung vor sich gehen. Bei einigen unsrer Kunst-
und Literatur-Richter ist es nämlich nachgerade so weit.
Jhnen wird jedes Bild und jede Dichtung ausschließlich
Anlaß zu nationalpolitischen, sozialethischcn, religions-
philosophischen Erpektorationen — je nach dem Ge-
schmack des einzelnen Kritikers. Da ist doch zu sagen:
wenn eine neue Maschine hergestellt ist, so muß eher
als der Nationalökonom über ihren wirtschaftlichen Wert,
der Techniker über ihre mechanische Möglichkeit und
Brauchbarkeit gehört werden. Gewiß, eine prachtvoll
funktionierende und unwirtschaftliche Maschine ist eine
leidige Spielerei — aber ein unter Umständen höchst
segensreicher Apparat, der nur leider nicht funktioniert,
ist eine lächerliche Utopie. Eine Kritik, die sich über die
kulturelle Bedeutung eines Werks ereifert, ohne ästhetisch
nachgeprüft zu haben, ob denn die künstlerische Lebens-
kraft, die allein die Kultur überhaupt berührt, in der

* Aus „Neue,Wege zum Drama". (Derlag Oesterheld k
Co„ Berlin.)

„göttlichen Maschine" steckt: solche Kritik ist häufig nicht
weniger lächerlich. Also die ästhetische Kritik darf nicht
fehlen, sie darf auch nicht hinter der kulturellen, die sie
durch einen ästhetisch negativen Befund überflüssig
machen kann, herhinken. Das ist das eine.

Das andere ist ein Gebot geistiger Reinlichkeit und
besagt, daß man nicht eine Erkenntnisquelle durch die
andere trüben, daß der ästhetische Späher sich den Blick
nicht durch kulturphilosophisches Schielen verderben soll.
Gewiß kommtnoch eineandere,vielleichthöhereWertung:
die geistige Einordnung eines Werks nach der ästhetischen
Untersuchung. Es geht aber durchaus nicht an, die weiter
gespannten Kategorien jener Sphäre und die ästheti-
schen Begriffe gleichzeitig zur Anwendung zu bringen;
ästhetische Blößen stillschweigend mit dem Mantel kultu-
reller Qualitäten zu bedecken, und umgekehrt. Diese
weitverbreitete Praxis scheint mir eine einzige Denk-
unsauberkeit.

Solange ich also ästhetische Kritik betreibe, auf die
Erkenntnis von Ursache und Wesen der künstlerischen
Wirkung ausgehe, habe ich es lediglich mit den Kunst-
formen zu tun. Mit Formen: kein Kunstwerk als solches
ist anders erkennbar, denn als eine planvoll gefügte
Änordnung sinnlicher Aeichen — akustischer in der Musik,
optischer in der Malerei, sprachlicher in der Poesie. Wie
jeder lebendige Organismus, so bedarf das Kunstwerk,
um erkannt, ins Reich des Lebens eingegliedert werden
zu können, zunächst morphologischer, anatomischer,
physiologischer Untersuchung. Dies ist die Arbeit des ästhe-
tischen Kritikers; hat er es erst nach Erscheinung, Organi-
sation, Funktion als lebendiges Kunstwesen einer be-
stimmten Art erkannt, so mag über die letzten rätsel-
haften Quellen seiner Lebenskraft der Biologe, der
Kulturphilosoph seine sehr nötigen Hypothesen stellen —
nicht eher.

Eine ästhetische Untersuchung über Dichtungen ist
also im Grunde nur eine ganz bestimmte Änwendung
der Sprachkritik. Sie hat die Aufgabe, die besonderen
Anordnungen der Worte, die Sprachformen s,1is>8
„Stile" zu erkennen, die jene Erregung unsrer Psyche
im Gefolge haben, die wir künstlerisches Erlebnis be-
nennen. Das Wesen der Sprache, die ja keine „rein"
sinnliche, sondern eine auf die Ientrale des ganzen
psychischen Lebens gerichtete Funktion ist, die bei einem
Kulturvolk in sehr flüchtigen Gedächtniszeichen die
Lebensleistung der hundert großen und der Milliarde
kleiner Geister von vielen Jahrhunderten zusammenfaßt,
dies Wesen der Sprache schließt freilich bei Erfassung
der einzelnen Sprachelemente ein gut Teil kultur-
geschichtlichen Erwägens ein. Andere aber als die in den
Darstellungsmitteln bereits inkarnierten Kulturmächte
gehen den ästhetischen Kritiker eines Wortwerks nicht
an. Er hat lediglich von den Formen oder Stilen der
Sprachkunst zu handeln.

Gegen diese Art der Kritik erhebt sich nun immer
wieder der behaglich höhnische Einwand: dies ganze
Spintisieren über die Formen, d. i. das Wesen der Kunst,
die Stile sei ja überflüssig; auf das allein wichtige
Schaffen der Künstler habe ja alle Theorie doch keinen
Einfluß. Dies ist zunächst einmal gar nicht wahr. Denn
rechte Erkenntnisse bleiben nicht als tote Formeln im
Gehirn liegen, sondern sie steigen in Blut und Nerven
 
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