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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 2
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Schmitt, Carl: Der Spiegel
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0075

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^ Von Carl Schmitt.

Jch bin überzeugt, daß es garnichts Totes gibt,
keine toten Dinge. Jch lasse mir von keinem
abstreiten, daß die Blumenvase, der Holzklotz oder der
Bettvorleger ebenso lebendige Wesen, Jndividualitaten,
warum nicht sogar Menschen sind. Die Frage ist doch
bloß eine terminologische. Wenn es Menschen gibt, die
man in allem Ernst als Holzklötze oder Bettvorleger
definieren kann, rvarum soll es da nicht Holzklötze und
Bettvorleger geben, die Menschen sind? Wäre das
nicht eine Unvollstandigkeit der Natur? Wenn der
Federhalter und die Feder Bewußtsein hätten, Ver-
stand und freien Willen, wie wir Menschen, so wären
sie überzeugt, alles, was sie schreiben, sei das Ergebnis
ihres Fleißes und ihrer genialen Veranlagung. Das
bezweifelt kein Philosoph. Wer sagt mir aber, daß der
Federhalter und die Feder kein Bewußtsein haben?

Wer darin einen naiven, anthropomorphistischen
Pandämonismus sieht, wie ihn heute nur noch Natur-
völker haben, der weiß eben nicht, was ich meine.

Jch verlange auch von niemandem, daß er auf diese
theoretischen Behauptungen hin meine Überzeugung
teilt. Iufällig kenne ich aber eine wahre Geschichte, die
meine, wie ich gern gestehe, etwas seltsamen Theorien
zu stützen geeignet ist.

Jch will niemand mit Versicherungen meiner Glaub-
würdigkeit ermüden. Jch will nur eins kurz bemerken:
Jch bin ein wissenschaftlich denkender Mensch, so gut wie
mein Kritiker. Bevor also jemand gegen meine Erzählung
den Vorwurf der inneren Unwahrscheinlichkeit erhebt
— ich betone, daß ich alle kritische Gesinnung als die
Pfadfinderin zur wahren Erkenntnis stets und überall
achte und selber ein kritischer Mensch bin — möge er sich
mit mir in Verbindung setzen. Jch brauche eine ein-
gehende Prüfung dessen, was ich vortrage, nicht zu fürch-
ten. Aber wenn einmal ein Ereignis eintritt, das deut-
lich eine Stelle zeigt, an der die Jdentität der soge-
nannten geistigen Welt mit der sogenannten Wirklichkeit
augenscheinlich wird, da sollte jeder Philosoph auf-
merksam werden. Kritisieren ist leichter als zuhören, und
von erakter Wissenschaft ist bald was gepfiffen.

Die Geschichte ist die:

Franz Morphenius bekam als Kind viele Schlage
und war schon früh davon überzeugt, daß er sie verdiente.
Seine Mutter war zu weichherzig, ihn selber zu schlagen.
Deshalb kommandierte sie den Vater zur Erekution. Der
Vater kam dem Befehl stets nach einigem Brummen
und Murren nach. Uberhaupt war an dem Vater
nicht viel Bemerkenswertes. Das Einzige, was die
Mutter an ihm hervorhob, war seine Jntelligenz. Doch
lag deren Betätigungsfeld außerhalb des Hauses, in
einem Bureau.

Jm Alter von 5 Jahren wurde Franz Morphenius
von seiner Mutter ertappt, wie er der vierjahrigen
Rosalie Blöing Schokolade schenkte. Er überzeugte sich
jedoch bei dieser Gelegenheit, als die Mutter scheltend
dazwischen fuhr, daß Rosalie Blöing ihr weder an
körperlicher Kraft, noch an Jntelligenz, Sprachgewandt-
heit oder Schönheit gewachsen war. Und als die Mutter
ihm hinterher liebevoll ein schöneö Buch zeigte, entschloß

er sich, ihr in Zukunft immer zu gehorchen. Und er hat
Wort gehalten.

Jm Alter von sechzehn Jahren wurde Franz Mor-
phenius von seiner Mutter mit in eine Gemäldegalerie
genommen. Die Mutter erklärte: „Hier, Franz, das ist
schön."

Franz sah das ein.

„Das heißt —" fuhr die Mutter fort.

Franz machte erwartungsvoll ein kritisches Gesicht.
„Die Stellung der Maria ist nicht natürlich."

Nein, wahrhaftig nicht, keine Spur von Natürlichkeit.
Franz sagte erfreut: „So was gibt es ja garnicht in
der Natur."

Die Mutter sah ihn an: „Das ist nun wieder falsch.
Darauf kommt es natürlich nicht an. Aentauren zum
Beispiel gibt es auch nicht in der Natur; aber deshalb
schwärme ich doch für Böcklin."

Franz sah ein. Aweifellos. Aentauren gibt es nicht
in der Natur, und wer schwärmte nicht für Böcklin.

Jch könnte viele solcher Gespräche erzahlen. Aber ich
will nur noch erwähnen, daß Franz ein guter Gym-
nasiast war. Jn der Religionsstunde von 8 bis 9 vor-
mittags glaubte er an die Dreieinigkeit (er hätte auch an
eine Vier-, Fünf- und Sechseinigkeit geglaubt), in der
zweiten, der Mathematikstunde, lachte er fröhlich über die
Religionsspöttereien des etwas frivolen Lehrers; in der
Geschichtsstunde erglühte er vor Patriotismus, so daß
ihm oft Tränen in die Augen traten; und bei der Lektüre
des Horaz genoß er sich als kosmopolitischen Halkyonier.
Jm großen und ganzen fühlte er sich wohl; er hatte
öfters sentimentale Anwandlungen, aus denen er schleu-
nigst einen Schluß auf seine seelische Größe zog.

Als Franz Morphenius sich endlich verliebte, schien
seine liebenswürdige Toleranz gegenüber den Mit-
nienschen darunter zu leiden. Solange er Nosalie Blöing
— dieselbe, von der eben die Rede war — sah, schien es
ihm nicht schwer, ihretwegen auf die ganze übrige Welt
zu verzichten. Er sprach sich Rosalie Blöing gegenüber
auch in diesem Sinne aus. Andrerseits aber ließ sich
nicht leugnen, daß die Mutter mit ihren oft heftigen Er-
wägungen über das ganze Verhältnis unwidersprechlich
richtige Ansichten entwickelte. Dieser Iwiespalt be-
schäftigte Franz Morphenius längere Aeit. Glücklicher-
weise kam hinzu, daß ein Jurist in fester Position sich
gleichfalls um Rosalie Blöing bewarb. Dieser Umstand
hätte den Ausschlag zugunsten der Mutter gegeben.
Da aber wurde es der Jnstanz, die Körper und Seele
in prästabilierter Harmonie und Korrespondenz hält,
zu viel. Der Körper des Franz Morphenius blieb be-
stehen und wurde mit der Seele eines Referendars be-
völkert, die durch ein Automobilunglück frei geworden
war. Niemand bemerkte eine Veränderung. Die
Seele des Franz Morphenius aber wurde in einen
Spiegel gesteckt. Das Automobilunglück ereignete sich
am 10. Juli 1922, nachmittags 3 Uhr, während Franz
Morphenius schlief. Um dieselbe Ieit stellte der Möbel-
händler in der Wilhelmstraße einen Spiegel ins Schau-
fenster. Die Seele des Referendars fand sich in den neuen
Verhältnissen sofort zurecht. Beim Kaffeetrinken freute
sich Frau Morphenius, daß ihr Junge erklärte, für eine
solche Aiege wie Rosalie Blöing würde sich der lebens-
 
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