Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

DOI issue:
Heft 2
DOI article:
Mahlberg, Paul: Die Witwe
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0082

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die Witwe.

Faktisch mit „Freud" konstatierte ich bei dem Jungen
ein psychisches Trauma in der Serualsphare. Aber
er langweilte mich dann und schien nun auch seiner-
seits die Lust am Spiel verloren zu haben. Den
nächsten Augenblick sah ich unbestimmt in die niattlichte
Straße.

Iogen da zwei Damen meine Aufmerksamkeit zu
sich, indem die eine laut einen Satz sprach. Es mußte
die kleinere der beiden Alten sein, die dort auf der
andern Seite langsam vorbeischritten; die Größere
neigte sich zu ihr herüber, und sie hing ihr schwer im
Arm. Jetzt sprach sie wieder. „Meine Füße werden so
mager, daß mir alle Schuhe zu weit werden." Sie hatte
es auffallend laut und klagend gesagt, so, daß ich es hören
konnte. Nun wiederholte sie es mit einer gewissen
Hartnäckigkeit, auf die die andere schwieg, und bogen
um die Ecke. Plötzlich überkam es mich, daß sie mich
rücksichtslos vor die Magie ihres abfallenden Lebens
gezogen hatte. Sie würde bald sterben, sie hatte es mir
prophezeit. Jch suchte nun ihre Gestalt in meiner Er-
innerung und fand, daß sie mittelgroß, eher klein war
und einen schwarzen Umhang trug. Wahrscheinlich
hatte sie einen Kapotthut aus dunkelgelbem Stroh mit
schwarzer Garnierung auf.

Jch dachte an ihre abgemagerten Füße. Und an ihre
schwarzen Lastingschuhe. Die aber nicht ihr eigentümlich
waren, sondern, wie mich nieine Erinnerung aufklärte,
zu einer Frau gehörten, die gestorben sein mochte, als
ich zehn Jahre alt war und die sich nun nach beinahe
zwölfjährigem Vergessen einen Platz in meiner Er-
innerung suchte.

Sie hatte keinen Mann mehr. Nachdem wohnte
sie allein in drei Aimmern der Etage, in der unsre
Wohnung, und zwar an demselben Flur, lag. Das Haus
war ein altes Haus, und die Küche lag an und gegenüber
einem ihrer Aimmer, während unsere Wohn- und Schlaf-
räume weiter davon entfernt waren. Jch weiß, daß
wir sie um das größte und schönste Aimmer der Etage
beneideten, das von ihr als Wohnzimmer eingerichtet
war, aber nicht benutzt wurde. Jn diesem Aimmer bin
ich vielleicht dreimal gewesen und erinnere mich, daß
eine große mit schwarzem Wachstuch bespannte Chaise-
longue mit hohem Haupt darin stand und darüber eine
Etagere mit den Klassikern hing. Von denen entlieh ich
Schiller, den wir nicht hatten und für den mich damals
jugendliches Feuer erhitzte. Die Abgeschlossenhcit des
Aimmers barg ungeheuer Reizvolles: ein hohes, ge-
schliffenes Kristallprisma, in dem ich alle Farben der
Welt sah.

Jn diese bunte Welt auf dem Vertikow sahen meine
Kinderaugen nur dreimal, denn meine Mutter wünschte
nicht, daß ich weiter als bis zur Türe der Nachbarin
ging. Sie selbst ging auch nie hinein und sprach wenig
mit ihr, ohne daß ein gespanntes Verhältnis zwischen
ihr und der Witwe bestanden hätte. Früher mußte
das wohl anders gewesen sein, denn man erzählte mir
öfters, daß ich als ganz kleiner Kerl jeden Morgen zu
der Frau S. gegangen sei und Bratkartoffeln, die sie
später noch nach meiner Kindersprache „Töffels" nannte,
gegessen habe, aber dessen kann ich mich nicht mehr
erinnern. Einmal hatte sie den grünen Papagei einer

Freundin, die verreist war, in Pflege genommen.
Nachdem ich zuerst nicht an ihn herandurfte, da er dann
erschrecke und sich aufrege und daran sterben könne,
schloß ich später gute Freundschaft mit Lorchen, und
aus jener Zeit weiß ich noch, daß Frau S. eine hölzerne
Kuckucksuhr an der Wand hängen hatte, die mit dem
Bein baumelte, und daneben, über dem hohen steifen
Sofa ein Paneelbrett. Darauf standen neben anderem
zwei angemalte Gipsfiguren, denen das Abstauben die
Farbe genommen hatte. Da ich damals viel mit Farben
auf Papier malte, versprach ich ihr, die Figuren neu
zu bemalen. Damit kam sie, als Mutter ausgegangen
war und ich Gottweiß — etwas anderes tat. Aber ich
fing doch sofort an, meinen Malkasten zusammen-
zusuchen und die Farben zu mischen. Dabei war die
Schwierigkeit, daß ich Weiß nur als Olfarbe in einer
Tube hatts, wahrend die anderen Stücke Wasserfarben
waren. Aber es gelang, und mit den fertigen Figuren
war die alte, etwas kindisch gewordene Frau hoch-
beglückt. Jch sagte der Mutter damals nichts davon,
und als sie es vierzehn Tage später von Frau S. erfahren
hatte, schämte ich mich, ließ aber ähnliche Heimlichkeiten
und daraus entstehende Unwahrheiten noch ein paarmal
vorkommen. Sie ergaben sich mir aus der merkwürdig
schwebenden Situation. Einmal, vor meinem Namens-
tage, fragte Frau S. mich heimlich, ob ich niir einen
Topf roter Nelken oder Nhododendron wünsche. Rote
Nelken waren damals meine Lieblingsblumen und ich
bat nichtsahnend um sie. Die ich andern Tages bekam.
Meine Mutter wunderte sich über die Tatsache und die
Wahl, und ich unterließ es, sie aufzuklären. Jch hatte
es nebensächlich genommen und nun wurde etwas
daraus, wie ich hörte. Also schwieg ich über den Her-
gang. Dann erfuhr man ihn und ich kam in eine schiefe
Lage. Jch glaube sogar, daß ich ihn leugnete, um eü
nicht hören zu müssen: „waruni denn diese Heimlich-
keiten?"

Jch hielt die Frau für gut, denn sie zeigte mir, daß
sie mir wohlgesinnt war. Aus Gesprächen hörte ich
einmal, daß sie geizig sei, und das andere Mal, daß
sie von ihren Verwandten, einer kinderreichen Familie,
ausgebeutet wurde. Man war sich also nicht einig über
sie, aber das fällt mir erst jetzt ein, ebenso, daß man sich
nicht schlüssig war, ob sie in ihrem Haushalt sauber war
oder nicht.

Eines Tages war sie krank und meine Mutter, die
bei ihr gewesen war, sagte dem Vater, daß Frau S.
merkwürdig ohne Perücke aussehe. Ohne Perücke!
Das berührte mich. Andern Tages aber war sie wieder
auf, ging auf ihren schwarzen Lastingschuhen über den
Gang und da sah ich zum erstenmale, daß sie eine Pe-
rücke aus grauem Haar aufgesetzt und darüber ein
Spitzenhäubchen gesteckt hatte. Da ging ich ihr aus dem
Wege, denn die Perücke umgab mir einen Menschen
mit dem angsterfüllten Nimbus des Bösewichts. Dazu
war ich durch die gruselige Erzählung von einem zur
Frau verkleideten Manne gekommen, der geraubt und
wohl gar gemordet hatte! Nun glaubte ich alles, was
über Frau S. Böses gesagt wurde. Sie spielte keine
Rolle mehr, und die Mitteilung von einer schweren
Erkrankung ging mir nicht nahe. Eines NachmittagS

»8
 
Annotationen