sich ohne den Meister ohnmächtig. Felix Holländer hatte bis in die
Mitte des Stücks mit Hilfe des genialen Malers Stern die Szene
in einem einfach kräftigen Stil, in den bunten Farben des noch
halb asiatischen Griechentums, auch mit gutem Jnstinkt für die
rauh-zarten Qualitäten der Dichtung geführt. Sobald abcr alles
Gewicht auf die Ensembleszenen fällt, fehlte es völlig an phan-
tastischer Crfindung und gestaltender Kraft. Gestalten, die heraus:
sprühende Funken eines glühenden, brausenden Ganzen sein sollen,
wurden in tropfenweiser öder Losgelöstheit über eine leere Bühne
gesandt, und wo sich Massen entfalteten, machten sie optisch wie
akustisch einen dürftigen, theatralisch konventionellen Cindruck.
So wirkte breit, zerbröckelt, dilettantisch, was doch vom Dichter
einheitlich, stark und voll großen Schwunges hingesetzt ist. So
erlahmte zum Schluß die Wirkung, und der Beifall am Cnde galt
mehr der allerdings prächtigen, gefühlsharten, milden und wilden
Gestaltung des Achilles durch Paul Wegner, als dem Dichter.
Aber der Theaterzufall tat damit einem Künstler unrecht, der sich
mit eben dieser Dichtung als die stärkste Hoffnung unseres dra-
matischen Nachwuchses bewährt hat. Bb.
er RhythmuS alö Kulturmacht.
Es scheint, als ob neue Möglichkeiten geistiger Gestaltung
aus dem Wesen unserer Zeit erblühen sollten. Die Bewegung ist
ein formales Merkmal unserer Tage — zur beschaulichen Kon-
templation fehlt uns die Zeit. Schaffen und Wirken überall — und
jede Arbeit hat ihren Rhythmus, wird erst durch rhythmische Ge-
staltung produktiv. Wir wissen seit Bücher, daß das Hinzutreten
des Rhythmus zu den Naturlautcn die Entfaltung gewaltiger
Arbeitskräfte ermöglicht hat. Wir wissen durch die neuesten Unter-
suchungen von Stumpf über die Anfänge der Musik, wie von der
ursprünglichsten Kunst, dem Tanze, herkommend, der Rhythmus
zu den primitiven Tönen (die dem gemeinsamen Signalruf ent-
stammen) sich gesellte und so der Mimus entstand, aus dem das
Drama wie der Kultgesang emtsprangen. Der Rhythmus ist also
für die Kulturentwicklung wirklich ein produktiver Faktor gewesen,
und es erscheint durchaus möglich, daß seine bewußte Ausgestaltung
auch die Gegenwart fördern kann. Cs ist ziemlich sicher, daß unsere
moderne Musik sich nach der rhythmischen Seite noch stark entwickeln
wird — wir haben bisher stets sehr einfache Takte gehabt, während
die Naturvölker eine Polyphonie des Rhythmus besitzen, die für
unser Ohr bisher unfaßbar war.
Den Rhythmus für das ganze körperliche und geistige Sein
nutzbar zu inachen, hat sich Jacques-Dalcroze vorgenommen und
er gibt uns in dem bei E. Diederichs erschienenen Jahrbuch „Der
Rhythmus" davon Kunde. Das Bändchen ist gut ausgestattet
und mit Abbildungen geschmückt. Die Gebäude der Bildungs-
anstalt Hellerau sehen wir da, dann einige der Bewegungsübungen
und Gruppenübungen. Wolf Dohrn, der mit der schönen Garten-
stadtbewegung verwachsen ist, vertritt in seinen einführenden
Worten und in seinem Vortrag über die Aufgabe der Bildungs-
anstalt eine erfreulich großzügige Ansicht der Sache. „Der Rhyth-
mus ist in jedem Fall Ordnung und Bewegung. Für eine Aeit,
die wie die unsere, die ungeahnte Fülle ihrer Kräfte ordnen will,
ohne von dieser Fülle etwas preiszugeben, die also eine Synthese
des Lebendigen, nicht des Gewesenen sucht, wird das Phänomen
des Rhythmus zum Ausdruck innerster Not, geheimster Sehnsucht.
Der Rhythmus allein gibt geformtes Leben. So ist uns der Rhyth-
mus fast ein metaphysischer Begriff geworden, er vergeistigt das
Körperliche und verkörpert das Geistige. Cr rührt an die tiefsten
Rätsel des Lebens". Hier wird also Rhythmus sehr weitgefaßt, im
Sinne von Gestaltung schlechthin — was ja vielleicht zulässig ist.
Jn dieser Weite betrachtet, ist es richtig, daß wir zur Formung
der neugeformten Massen unseres Wissens z. B. streben, daß wir
Synthesen wollen und daß wir auch auf dem praktischen Gebiete
sozialer Gestaltung nach zweckmäßiger Regelung aller Beziehungen
streben. Das sind Dinge, die mit dem Rhythmus des Kulturlebens
zusammenhängen — und so sei denn Dohrns Hymnus freudig hin-
genommen. Was wir aber in den weiteren Ausführungen dcs
Jahrbuches vermissen, ist die Einsicht, daß der Rhythmus nur ein
forrnales Prinzip ist, und daß es sehr darauf ankommt, was ge-
staltet wird! Übcr dieses Was der Formung erfahren wir nichts —
mit schwärmerischen Bekenntnissen über den „großen Rhythmus
des Lebens" ist da nicht geholfen. Es hättc klar ausgeführt wcrden
müssen, daß die Gestaltung in dem geistigen Wesensgehalt
der Dinge ihre Stilvorschrift hat, daß wir die Welt gestalten
wollen, um das Geistige zur anschaulichen Crscheinung zu bringen.
Nur in diesem Sinne kann der Rhythmus ein Kulturfaktor sein!
Es gibt auch eine vollendete Formung der ungeistigsten, kultur-
feindlichen Dinge —^ ein flüchtiger Schönheitszauber huscht dann
auch wohl darüber, aber es ist keine Weltverticfung, kein Hinauf
zum Geiste.
Jch zweifle nicht daran, daß Dalcroze und Dohrn es so meinen,
wie ich es ausführte — in der ersten Programmschrift hätte das
aber klarer zum Äusdruck kommen sollen.
Auf Cinzelheiten einzugehcn, ist hier nicht möglich; man hätte
gern etwas Genaueres über die Ubungen erfahren. Das Grund-
prinzip ist zweifellos richtig:* durch die Studien rhythmischcr
Ausdrucksbewegung wird unser Körper durchgeistigt und fähig,
das Innere darzustellen. Auch der Geist, namentlich das künst-
lerische Cmpfinden, kann direkt davon Nutzen ziehen. Appia geht
mit seinem Beitrag über „die rhythmische Gymnastik und das
Thearer" schon wieder zu weit. Die absprechenden Bemerkungen
über das moderne Musikdrama sind recht überflüssig. Gewiß —
der heutige Schauspieler und die heutige Bühne können durch das
Prinzip der räumlichen Gestaltung noch wesentlich gefördert werden.
Es wird auch aus den großen Aufführungen in Hellerau ein ver-
geistigter Mimus erwachsen, der auf seine Art den dramatischen
Weltgehalt anschaulich macht. Nur muß man nicht gleich, weil
man das Neue schätzt, das Alte verwerfen. Wagners Ideal war es
doch gerade, daß Bewegung, Musik und Wort zusammenklingen —-
ich kann durchaus nicht finden, daß das bei Wagners Werken un-
möglich ist! Man sollte der neuen Bewegung nicht durch ein-
seitige Übertreibungen schaden. Muß denn alles Alte veraltet sein?
Sonst aber können wir uns der neuen Bewegung freuen, die auch
ein Weg ist, das Menschheitsziel zu erreichen: Bildung der
Crde nach den Werten des Geistes. Otto Braun.
t^^^eutsche Stadtbaukunst in dcr Vergangenheit.
In der lehten Dezembernummer wurde (S. 409) auf die
grundlegenden Arbeiten A. C. Brinckmanns hingewiesen, leider
unter Derwechslung seines Vornamens, so daß er als Ludwig Brinck-
mann zutage kam. Unsere Leser werden trohdem kaum bezweifelt
haben, daß niemand anders als der Verfasser des schönen Auf-
sahes über „Alte und neue Städtebaukunst" im Oktoberheft 1910
gemeint war. Von den 18 Abbildungen, die damals bei uns ab-
gedruckt waren, findet sich ein beträchtlicher Teil in seiner „Stadt-
baukunst" wieder, die irn Verlag von Heinrich Keller in Frankfurt
als ein stattlicher Band erschienen ist. Womit nicht etwa angedeutet
sein soll, daß unser Aufsatz von damals die Anschaffung dieses Buches
überflüssig mache. Jch muß vielmehr mit allem Nachdruck dazu raten,
weil es ein ganz ungewöhnliches, in seiner Art einziges Buch ist.
Aunächst um seiner Abbildungen willen (es sind ihrer 109 und
8 Faltpläne); Brinckmann arbeitet nicht nach bequemem Muster mit
Beispiel und Gegenbeispiel, was er zusammen gebracht hat, sind
fast ausnahmslos Vorbilder, aber nicht um irgend eines altertüm-
lichen Stimmungsgehaltes willen ausgewählt und aufgenommen,
sondern als Architektur, besser als Bauwesen. Jhn interessieren
die alten Städte nicht mit ihren malerischen oder poetischen Schlupf-
winkeln, er liebt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern er sucht
überall die Gesetze aufzudecken, denen sie ihre Wirkung verdanken;
und zwar tut er das nicht, um irgend eine interessante Wissenschaft
aufzurnachen oder gar eine Rückkehr zum Alten auszublasen: er
sucht vielmehr mit dem Auge der Aukunft, weil er unserm eigenen
Städtebau sichere Grundlagen zu schaffen helfen möchte. Er
repräsentiert jene Vereinigung von Wissenschaft, Geschmack und
praktischer Energie, die bei uns in Deutschland das Seltene zu
bleiben scheint; und somit ist er mehr als ein Fachmann, ein Zu-
wachs an Macht, den die moderne Kultur in Deutschland ge-
wonnen hat.
Er ist das umsomehr, als er zwar nicht hinreißend aber
überzeugend zu schreiben versteht und in dcr Disposition seines
Buches selber eine Art Architektur gibt. Wir haben in Deutschland
einen solchen Überfluß an schreibseligen Trabanten gerade auf dem
Denkmalspflege- und Heimatschutzgebiet, daß man ordentlich auf-
atmet, hier wieder einmal einem gebildeten Menschen zu begegnen.
Ciner seiner Grundgedanken, das Alte ist nicht dazu da, mit ängst-
licher Flickerei gehütet zu werden, sondern daß es beachtet wird
für das Neue, ist zwar in unsern Blättern vielfach vertreten worden:
aber was will eine gelegentliche Bemerkung besagen gegen die
Konsequenz der Wirkung, wenn ein solches Buch wirklich von
* Einen großen Teil des Bandes füllt die Ansprache Dal-
crozes: „Was die rhythmische Gymnastik Jhnen gibt und was sie
von Jhnen fordert".
II
Mitte des Stücks mit Hilfe des genialen Malers Stern die Szene
in einem einfach kräftigen Stil, in den bunten Farben des noch
halb asiatischen Griechentums, auch mit gutem Jnstinkt für die
rauh-zarten Qualitäten der Dichtung geführt. Sobald abcr alles
Gewicht auf die Ensembleszenen fällt, fehlte es völlig an phan-
tastischer Crfindung und gestaltender Kraft. Gestalten, die heraus:
sprühende Funken eines glühenden, brausenden Ganzen sein sollen,
wurden in tropfenweiser öder Losgelöstheit über eine leere Bühne
gesandt, und wo sich Massen entfalteten, machten sie optisch wie
akustisch einen dürftigen, theatralisch konventionellen Cindruck.
So wirkte breit, zerbröckelt, dilettantisch, was doch vom Dichter
einheitlich, stark und voll großen Schwunges hingesetzt ist. So
erlahmte zum Schluß die Wirkung, und der Beifall am Cnde galt
mehr der allerdings prächtigen, gefühlsharten, milden und wilden
Gestaltung des Achilles durch Paul Wegner, als dem Dichter.
Aber der Theaterzufall tat damit einem Künstler unrecht, der sich
mit eben dieser Dichtung als die stärkste Hoffnung unseres dra-
matischen Nachwuchses bewährt hat. Bb.
er RhythmuS alö Kulturmacht.
Es scheint, als ob neue Möglichkeiten geistiger Gestaltung
aus dem Wesen unserer Zeit erblühen sollten. Die Bewegung ist
ein formales Merkmal unserer Tage — zur beschaulichen Kon-
templation fehlt uns die Zeit. Schaffen und Wirken überall — und
jede Arbeit hat ihren Rhythmus, wird erst durch rhythmische Ge-
staltung produktiv. Wir wissen seit Bücher, daß das Hinzutreten
des Rhythmus zu den Naturlautcn die Entfaltung gewaltiger
Arbeitskräfte ermöglicht hat. Wir wissen durch die neuesten Unter-
suchungen von Stumpf über die Anfänge der Musik, wie von der
ursprünglichsten Kunst, dem Tanze, herkommend, der Rhythmus
zu den primitiven Tönen (die dem gemeinsamen Signalruf ent-
stammen) sich gesellte und so der Mimus entstand, aus dem das
Drama wie der Kultgesang emtsprangen. Der Rhythmus ist also
für die Kulturentwicklung wirklich ein produktiver Faktor gewesen,
und es erscheint durchaus möglich, daß seine bewußte Ausgestaltung
auch die Gegenwart fördern kann. Cs ist ziemlich sicher, daß unsere
moderne Musik sich nach der rhythmischen Seite noch stark entwickeln
wird — wir haben bisher stets sehr einfache Takte gehabt, während
die Naturvölker eine Polyphonie des Rhythmus besitzen, die für
unser Ohr bisher unfaßbar war.
Den Rhythmus für das ganze körperliche und geistige Sein
nutzbar zu inachen, hat sich Jacques-Dalcroze vorgenommen und
er gibt uns in dem bei E. Diederichs erschienenen Jahrbuch „Der
Rhythmus" davon Kunde. Das Bändchen ist gut ausgestattet
und mit Abbildungen geschmückt. Die Gebäude der Bildungs-
anstalt Hellerau sehen wir da, dann einige der Bewegungsübungen
und Gruppenübungen. Wolf Dohrn, der mit der schönen Garten-
stadtbewegung verwachsen ist, vertritt in seinen einführenden
Worten und in seinem Vortrag über die Aufgabe der Bildungs-
anstalt eine erfreulich großzügige Ansicht der Sache. „Der Rhyth-
mus ist in jedem Fall Ordnung und Bewegung. Für eine Aeit,
die wie die unsere, die ungeahnte Fülle ihrer Kräfte ordnen will,
ohne von dieser Fülle etwas preiszugeben, die also eine Synthese
des Lebendigen, nicht des Gewesenen sucht, wird das Phänomen
des Rhythmus zum Ausdruck innerster Not, geheimster Sehnsucht.
Der Rhythmus allein gibt geformtes Leben. So ist uns der Rhyth-
mus fast ein metaphysischer Begriff geworden, er vergeistigt das
Körperliche und verkörpert das Geistige. Cr rührt an die tiefsten
Rätsel des Lebens". Hier wird also Rhythmus sehr weitgefaßt, im
Sinne von Gestaltung schlechthin — was ja vielleicht zulässig ist.
Jn dieser Weite betrachtet, ist es richtig, daß wir zur Formung
der neugeformten Massen unseres Wissens z. B. streben, daß wir
Synthesen wollen und daß wir auch auf dem praktischen Gebiete
sozialer Gestaltung nach zweckmäßiger Regelung aller Beziehungen
streben. Das sind Dinge, die mit dem Rhythmus des Kulturlebens
zusammenhängen — und so sei denn Dohrns Hymnus freudig hin-
genommen. Was wir aber in den weiteren Ausführungen dcs
Jahrbuches vermissen, ist die Einsicht, daß der Rhythmus nur ein
forrnales Prinzip ist, und daß es sehr darauf ankommt, was ge-
staltet wird! Übcr dieses Was der Formung erfahren wir nichts —
mit schwärmerischen Bekenntnissen über den „großen Rhythmus
des Lebens" ist da nicht geholfen. Es hättc klar ausgeführt wcrden
müssen, daß die Gestaltung in dem geistigen Wesensgehalt
der Dinge ihre Stilvorschrift hat, daß wir die Welt gestalten
wollen, um das Geistige zur anschaulichen Crscheinung zu bringen.
Nur in diesem Sinne kann der Rhythmus ein Kulturfaktor sein!
Es gibt auch eine vollendete Formung der ungeistigsten, kultur-
feindlichen Dinge —^ ein flüchtiger Schönheitszauber huscht dann
auch wohl darüber, aber es ist keine Weltverticfung, kein Hinauf
zum Geiste.
Jch zweifle nicht daran, daß Dalcroze und Dohrn es so meinen,
wie ich es ausführte — in der ersten Programmschrift hätte das
aber klarer zum Äusdruck kommen sollen.
Auf Cinzelheiten einzugehcn, ist hier nicht möglich; man hätte
gern etwas Genaueres über die Ubungen erfahren. Das Grund-
prinzip ist zweifellos richtig:* durch die Studien rhythmischcr
Ausdrucksbewegung wird unser Körper durchgeistigt und fähig,
das Innere darzustellen. Auch der Geist, namentlich das künst-
lerische Cmpfinden, kann direkt davon Nutzen ziehen. Appia geht
mit seinem Beitrag über „die rhythmische Gymnastik und das
Thearer" schon wieder zu weit. Die absprechenden Bemerkungen
über das moderne Musikdrama sind recht überflüssig. Gewiß —
der heutige Schauspieler und die heutige Bühne können durch das
Prinzip der räumlichen Gestaltung noch wesentlich gefördert werden.
Es wird auch aus den großen Aufführungen in Hellerau ein ver-
geistigter Mimus erwachsen, der auf seine Art den dramatischen
Weltgehalt anschaulich macht. Nur muß man nicht gleich, weil
man das Neue schätzt, das Alte verwerfen. Wagners Ideal war es
doch gerade, daß Bewegung, Musik und Wort zusammenklingen —-
ich kann durchaus nicht finden, daß das bei Wagners Werken un-
möglich ist! Man sollte der neuen Bewegung nicht durch ein-
seitige Übertreibungen schaden. Muß denn alles Alte veraltet sein?
Sonst aber können wir uns der neuen Bewegung freuen, die auch
ein Weg ist, das Menschheitsziel zu erreichen: Bildung der
Crde nach den Werten des Geistes. Otto Braun.
t^^^eutsche Stadtbaukunst in dcr Vergangenheit.
In der lehten Dezembernummer wurde (S. 409) auf die
grundlegenden Arbeiten A. C. Brinckmanns hingewiesen, leider
unter Derwechslung seines Vornamens, so daß er als Ludwig Brinck-
mann zutage kam. Unsere Leser werden trohdem kaum bezweifelt
haben, daß niemand anders als der Verfasser des schönen Auf-
sahes über „Alte und neue Städtebaukunst" im Oktoberheft 1910
gemeint war. Von den 18 Abbildungen, die damals bei uns ab-
gedruckt waren, findet sich ein beträchtlicher Teil in seiner „Stadt-
baukunst" wieder, die irn Verlag von Heinrich Keller in Frankfurt
als ein stattlicher Band erschienen ist. Womit nicht etwa angedeutet
sein soll, daß unser Aufsatz von damals die Anschaffung dieses Buches
überflüssig mache. Jch muß vielmehr mit allem Nachdruck dazu raten,
weil es ein ganz ungewöhnliches, in seiner Art einziges Buch ist.
Aunächst um seiner Abbildungen willen (es sind ihrer 109 und
8 Faltpläne); Brinckmann arbeitet nicht nach bequemem Muster mit
Beispiel und Gegenbeispiel, was er zusammen gebracht hat, sind
fast ausnahmslos Vorbilder, aber nicht um irgend eines altertüm-
lichen Stimmungsgehaltes willen ausgewählt und aufgenommen,
sondern als Architektur, besser als Bauwesen. Jhn interessieren
die alten Städte nicht mit ihren malerischen oder poetischen Schlupf-
winkeln, er liebt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern er sucht
überall die Gesetze aufzudecken, denen sie ihre Wirkung verdanken;
und zwar tut er das nicht, um irgend eine interessante Wissenschaft
aufzurnachen oder gar eine Rückkehr zum Alten auszublasen: er
sucht vielmehr mit dem Auge der Aukunft, weil er unserm eigenen
Städtebau sichere Grundlagen zu schaffen helfen möchte. Er
repräsentiert jene Vereinigung von Wissenschaft, Geschmack und
praktischer Energie, die bei uns in Deutschland das Seltene zu
bleiben scheint; und somit ist er mehr als ein Fachmann, ein Zu-
wachs an Macht, den die moderne Kultur in Deutschland ge-
wonnen hat.
Er ist das umsomehr, als er zwar nicht hinreißend aber
überzeugend zu schreiben versteht und in dcr Disposition seines
Buches selber eine Art Architektur gibt. Wir haben in Deutschland
einen solchen Überfluß an schreibseligen Trabanten gerade auf dem
Denkmalspflege- und Heimatschutzgebiet, daß man ordentlich auf-
atmet, hier wieder einmal einem gebildeten Menschen zu begegnen.
Ciner seiner Grundgedanken, das Alte ist nicht dazu da, mit ängst-
licher Flickerei gehütet zu werden, sondern daß es beachtet wird
für das Neue, ist zwar in unsern Blättern vielfach vertreten worden:
aber was will eine gelegentliche Bemerkung besagen gegen die
Konsequenz der Wirkung, wenn ein solches Buch wirklich von
* Einen großen Teil des Bandes füllt die Ansprache Dal-
crozes: „Was die rhythmische Gymnastik Jhnen gibt und was sie
von Jhnen fordert".
II