Kleine AufsäHe über Musik.
Je besser sie nun gelang, desto sinnvoller finden wir
auch die musikalische Dynamik, das ist das Schalten mit
den abgestuften Stärkegraden im Vortrag. Es ist be-
zeichnend, daß die Autoren hierin immer empfindlicher
wurden, daß sie in ihren Vorschriften das zunehmend
subtile Wollen bekundeten. Beethoven geht hier am
weitesten, wenn er langgehaltene in mehrere kleine
zusammengebundene Noten trennt, also z. B. eine ganze
Note in vier gleichlautenden Vierteln notiert, nur um
für jedes derselben einen besonderen Starkegrad zu
befehlen, nicht aber in der Absicht, sie voneinander durch
ein Halb-Stakkato abheben zu lassen.
Er ist darum freilich noch nicht etwa der größte
Dynamiker zu nennen.
Und er kann das gar nicht sein, weil er namlich nicht
der größte Harmoniker ist.
Denn ob ich stark oder schwach, ob ich wachsend oder
abnehmend stark spiele, das ist nicht mein diskretionäres
Ermessen. Nicht ich sage der Musik, wie sie klingen soll,
sondern die Musik sagt mir, wie sie klingen will. Schweigt
sie mir darüber, so ist sie dynamisch gleichgültig (falls
nicht etwa ich dynamisch schwerhörig bin). Einer willen-
losen Musik aber kann durch dynamische Vortrags-
künste nicht wirklich aufgeholfen werden, wenn sie auch
scheinbar interessanter gemacht wird. Sie mag durch
solches nervöser, überredender wirken, aber sie hat
darum noch nicht Nerven noch Nerv, sie überzeugt nicht.
Ein guter Auhörer wird sich von ihrem Sichhaben
nicht täuschen lassen; er wird es fühlen, ob in die Musik
etwas hinein interpretiert, oder ob sie selbst, ihr Wille,
durch den Vortrag dargestellt wird.
Der dynamische Wille nun liegt hauptsächlich in der
Harmonie begründet. Daß die Melodie den schwächeren
Willen hat, ist leicht einzusehen. Ein Vorhalt ist stets
und naturgemäß betont, seine Auflösung unbetont,
gleichgültig ob der Vorhalt nach oben oder nach unten
in die Auflösung führt, also ob die Melodie steigt oder
fällt. Das heißt: wo nur die Melodie in engem Au-
fammenhang mit der Harmonie ist, da befiehlt die
letztere. Ein schönes Beispiel hiefür ist das zweite
Thema des Adagios der fünften Symphonie von
Bruckner.
Die innere Kraft des Geschehens, deren Ausdruck
die sogenannte Dynamik ist, sehen wir also vor«
züglich durch die Harmonie wirken. Erwägen wir nun,
daß das harmonische Empfinden Höhe und Tiefe,
Nähe und Ferne fühlt, so werden wir von einer
inneren Dynamik der Akkord- und Tonartverbindungen
zu sprechen geneigt sein, wobei wir diesen Begriff in
sehr ähnlichem Sinn gebrauchen, wie es die Physik tut.
Das Nahe erreiche ich durch einen Schritt, das Ferne
durch einen Schwung; damit ein Sprung gelinge, muß
eine Schnellkraft, muß ein Schwung gewonnen worden
sein; vom Auhören her gedacht: damit wir den Sprung
verstehen, muß unser Empfinden beschwingt worden sein.
Wir fühlen eine „Arbeit" geleistet, wenn die Harnionie
steigt, fühlen eine „Energie der Lage" in einem har-
monisch gespannten Austand, sühlen befreite Kraft,
wenn die Harmonie fällt. Diese so geschehen lassen, daß
wir gerne mitfühlen, daß wir mitkommen, daß wir, in
die Höhe gehoben oder abwärts schwebend, uns gesichert
und getragen fühlen: das ist harmonische Meisterschaft.
Der Ausdruck „Steigerung" verweist mit Recht auf die
Vorstellung des Steigens. Das allmählich schnellere
oder langsamere Uberwinden des Raums nach der Höhe
oder der Tiefe ist das Wesen der Steigerung oder des
Gegenteils, der Antiklimar.
Darin ist Bruckner der größte Meister; er ist gerade
deshalb auch der größte Dynamiker nach dem für den
musikalischen Vortrag üblichen Sinn des Worts. Seine
Vortragszeichen wären häufig unnötig, so sehr sind sie
aus dem Wesen des Geschehens zu erschließen. Die
Kühnheit gebietet ihm Klarheit, der Reichtum erlaubt
ihm Einsachheit. Er kennt nicht jenes irritierende
Belichten, jenes heftige Drücken auf Einzelnes, jenes
überreizte Betonen etwa eines Auftaktes, er ist zu
sehr wahrhaft sensibel und zugleich gesund und kräftig
dazu. Er ist nicht Orator, und man dürfte von ihm sagen:
wie er spricht, so geschiehts. Er hat eine prachtvolle,
reiche und differenzierte Dynamik, die aber aus dem
Wuchs und der Wurzel der Musik erblüht: weswegen
ihm, vor allen andern, zugleich das gute Gewissen
der Dynamik eigen ist.
Es sei zugegeben, daß die Frage der Dynamik
strittig sein, auch daß sie sich komplizieren kann,
indem mehrere Bedürfnisse sich um das Vorrecht
streiten, den Vortrag einer Stelle zu bestimmen.
Aber zunächst wäre damit zu beginnen, an einfachen
Situationen, da, wo die Musik deutlich und klar spricht,
wo sie unzweifelhaft die Art des Vortrags fordert,
die innere Kraft der Harmonie zu untersuchen; ohne
Aweifel gehört das zu den Aufgaben der Harmonielehre,
die sich leider bis jetzt zu sehr nur mit der Grammatik,
zu wenig noch mit dem Stil der Harmonik befaßt hat;
und ich glaube, diese Aufgabe wird sie am besten lösen,
wenn sie die psychologische Tatsache unseres Sympathi-
sierens mit einer geleisteten Arbeit, mit der Außerung
und dem Verbrauch einer Kraft, mit ihreni Gehemmt-
werden, Gestaut- und Gesammeltwerden, mit ihrem
Wachsen oder Abnehmen beachtet. Und die natürlich
wirkende, nicht aber freilich die bloß vorgeschriebene,
willkürliche, die aufgesetzte Dynamik gibt Kunde von dem
inneren Leben des Geschehens.
Ein Lehrer der Komposition sagte einmal in einer
Unterrichtsstunde, die er in einem Konservatorium gab:
„Wir wollen hier zur Abwechslung ein piano setzen."
Daß man wohl auch einmal, „zur Abwechslung", so
verfahren dürfe, oder, was dasselbe ist, daß man einmal
auch eine Musik komponieren könne, welche ein solches
Verfahren duldet — das versäumte er, hinzuzufügen.
Ob er wohl die bessere Einsicht als selbstverständlich bci
uns, seinen Schülern, voraussetzte? Jch weiß es nicht.
Aber das weiß ich, und will es hier an die Offentlich-
keit bringen, daß ich den größten Meister der harmo-
nischen Dynamik, daß ich Anton Bruckner, von dem
damals schon acht Symphonien veröffentlicht waren,
mit keinem Wort habe dort erwähnen hören.
Es ging die Sage, daß unser Lehrer — es war Rhein-
berger — von den „Modernen" nichts Gutes halte, und
ich hielt es damals für vornehni, daß er sich Schweigen
über sie auferlegte. Heute denke ich anders darüber.
August Halm.
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Je besser sie nun gelang, desto sinnvoller finden wir
auch die musikalische Dynamik, das ist das Schalten mit
den abgestuften Stärkegraden im Vortrag. Es ist be-
zeichnend, daß die Autoren hierin immer empfindlicher
wurden, daß sie in ihren Vorschriften das zunehmend
subtile Wollen bekundeten. Beethoven geht hier am
weitesten, wenn er langgehaltene in mehrere kleine
zusammengebundene Noten trennt, also z. B. eine ganze
Note in vier gleichlautenden Vierteln notiert, nur um
für jedes derselben einen besonderen Starkegrad zu
befehlen, nicht aber in der Absicht, sie voneinander durch
ein Halb-Stakkato abheben zu lassen.
Er ist darum freilich noch nicht etwa der größte
Dynamiker zu nennen.
Und er kann das gar nicht sein, weil er namlich nicht
der größte Harmoniker ist.
Denn ob ich stark oder schwach, ob ich wachsend oder
abnehmend stark spiele, das ist nicht mein diskretionäres
Ermessen. Nicht ich sage der Musik, wie sie klingen soll,
sondern die Musik sagt mir, wie sie klingen will. Schweigt
sie mir darüber, so ist sie dynamisch gleichgültig (falls
nicht etwa ich dynamisch schwerhörig bin). Einer willen-
losen Musik aber kann durch dynamische Vortrags-
künste nicht wirklich aufgeholfen werden, wenn sie auch
scheinbar interessanter gemacht wird. Sie mag durch
solches nervöser, überredender wirken, aber sie hat
darum noch nicht Nerven noch Nerv, sie überzeugt nicht.
Ein guter Auhörer wird sich von ihrem Sichhaben
nicht täuschen lassen; er wird es fühlen, ob in die Musik
etwas hinein interpretiert, oder ob sie selbst, ihr Wille,
durch den Vortrag dargestellt wird.
Der dynamische Wille nun liegt hauptsächlich in der
Harmonie begründet. Daß die Melodie den schwächeren
Willen hat, ist leicht einzusehen. Ein Vorhalt ist stets
und naturgemäß betont, seine Auflösung unbetont,
gleichgültig ob der Vorhalt nach oben oder nach unten
in die Auflösung führt, also ob die Melodie steigt oder
fällt. Das heißt: wo nur die Melodie in engem Au-
fammenhang mit der Harmonie ist, da befiehlt die
letztere. Ein schönes Beispiel hiefür ist das zweite
Thema des Adagios der fünften Symphonie von
Bruckner.
Die innere Kraft des Geschehens, deren Ausdruck
die sogenannte Dynamik ist, sehen wir also vor«
züglich durch die Harmonie wirken. Erwägen wir nun,
daß das harmonische Empfinden Höhe und Tiefe,
Nähe und Ferne fühlt, so werden wir von einer
inneren Dynamik der Akkord- und Tonartverbindungen
zu sprechen geneigt sein, wobei wir diesen Begriff in
sehr ähnlichem Sinn gebrauchen, wie es die Physik tut.
Das Nahe erreiche ich durch einen Schritt, das Ferne
durch einen Schwung; damit ein Sprung gelinge, muß
eine Schnellkraft, muß ein Schwung gewonnen worden
sein; vom Auhören her gedacht: damit wir den Sprung
verstehen, muß unser Empfinden beschwingt worden sein.
Wir fühlen eine „Arbeit" geleistet, wenn die Harnionie
steigt, fühlen eine „Energie der Lage" in einem har-
monisch gespannten Austand, sühlen befreite Kraft,
wenn die Harmonie fällt. Diese so geschehen lassen, daß
wir gerne mitfühlen, daß wir mitkommen, daß wir, in
die Höhe gehoben oder abwärts schwebend, uns gesichert
und getragen fühlen: das ist harmonische Meisterschaft.
Der Ausdruck „Steigerung" verweist mit Recht auf die
Vorstellung des Steigens. Das allmählich schnellere
oder langsamere Uberwinden des Raums nach der Höhe
oder der Tiefe ist das Wesen der Steigerung oder des
Gegenteils, der Antiklimar.
Darin ist Bruckner der größte Meister; er ist gerade
deshalb auch der größte Dynamiker nach dem für den
musikalischen Vortrag üblichen Sinn des Worts. Seine
Vortragszeichen wären häufig unnötig, so sehr sind sie
aus dem Wesen des Geschehens zu erschließen. Die
Kühnheit gebietet ihm Klarheit, der Reichtum erlaubt
ihm Einsachheit. Er kennt nicht jenes irritierende
Belichten, jenes heftige Drücken auf Einzelnes, jenes
überreizte Betonen etwa eines Auftaktes, er ist zu
sehr wahrhaft sensibel und zugleich gesund und kräftig
dazu. Er ist nicht Orator, und man dürfte von ihm sagen:
wie er spricht, so geschiehts. Er hat eine prachtvolle,
reiche und differenzierte Dynamik, die aber aus dem
Wuchs und der Wurzel der Musik erblüht: weswegen
ihm, vor allen andern, zugleich das gute Gewissen
der Dynamik eigen ist.
Es sei zugegeben, daß die Frage der Dynamik
strittig sein, auch daß sie sich komplizieren kann,
indem mehrere Bedürfnisse sich um das Vorrecht
streiten, den Vortrag einer Stelle zu bestimmen.
Aber zunächst wäre damit zu beginnen, an einfachen
Situationen, da, wo die Musik deutlich und klar spricht,
wo sie unzweifelhaft die Art des Vortrags fordert,
die innere Kraft der Harmonie zu untersuchen; ohne
Aweifel gehört das zu den Aufgaben der Harmonielehre,
die sich leider bis jetzt zu sehr nur mit der Grammatik,
zu wenig noch mit dem Stil der Harmonik befaßt hat;
und ich glaube, diese Aufgabe wird sie am besten lösen,
wenn sie die psychologische Tatsache unseres Sympathi-
sierens mit einer geleisteten Arbeit, mit der Außerung
und dem Verbrauch einer Kraft, mit ihreni Gehemmt-
werden, Gestaut- und Gesammeltwerden, mit ihrem
Wachsen oder Abnehmen beachtet. Und die natürlich
wirkende, nicht aber freilich die bloß vorgeschriebene,
willkürliche, die aufgesetzte Dynamik gibt Kunde von dem
inneren Leben des Geschehens.
Ein Lehrer der Komposition sagte einmal in einer
Unterrichtsstunde, die er in einem Konservatorium gab:
„Wir wollen hier zur Abwechslung ein piano setzen."
Daß man wohl auch einmal, „zur Abwechslung", so
verfahren dürfe, oder, was dasselbe ist, daß man einmal
auch eine Musik komponieren könne, welche ein solches
Verfahren duldet — das versäumte er, hinzuzufügen.
Ob er wohl die bessere Einsicht als selbstverständlich bci
uns, seinen Schülern, voraussetzte? Jch weiß es nicht.
Aber das weiß ich, und will es hier an die Offentlich-
keit bringen, daß ich den größten Meister der harmo-
nischen Dynamik, daß ich Anton Bruckner, von dem
damals schon acht Symphonien veröffentlicht waren,
mit keinem Wort habe dort erwähnen hören.
Es ging die Sage, daß unser Lehrer — es war Rhein-
berger — von den „Modernen" nichts Gutes halte, und
ich hielt es damals für vornehni, daß er sich Schweigen
über sie auferlegte. Heute denke ich anders darüber.
August Halm.
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