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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 4
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Halm, August Otto: Kleine Aufsätze über Musik, 6: das @Wunder der Oktave
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0159

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Klciiw Aufsähc über Musik.

anthropologisch begründct. Eine rein menschliche Tat
(die uns darum freilich gerade nicht sreisteht zu tun oder
zu vermeiden); die Folge oder ein System dessen, waö
wir mit dent Geschenk der Natur anfangen, fiele sic
hin oder wechselte sie ihre Gestalt bis zur Unkenntlich-
keit, wcnn wir irgendwie das Gegebcne anders inter-
pretierten.

Die Natur gebiert mit gleicher Liebe oder Gleich-
gültigkeit eine größere Unendlichkeit von Gerauschen,
eine kleinere Unendlichkeit von Tönen (die ja eine be-
sondere Art von Geräuschen sind). Die Musik als mensch-
liches Tun wählt die Töne, sodann unter den Tönen
zunächst einen einzigen Ton aus, dem sie erbliche
Königsrechte gibt. Wir lassen dem Ton seinen Willen
(soweit es uns paßt, versteht sich, sowcit es in unser
Gehirn paßt), aus dem Ton wird ein Akkord und dieser
Akkord nun soll herrschen, soll gelten. Dieses „soll"
nennen wir Tonart. Das Tonartbewußtsein ist der
Anfang, der Jnbegriff und Jnhalt, der Tonartbegriff ist
dcr Schlüssel allen Musizierens. Von dcr erwartungs-
vollcn Menge der Draußenstehenden nun lasscn wir die
Wenigen herein, die dem Soll der Tonart dienen, dic
paar Wahlverwandten des königlichen Stamms, die
dann wieder ihre Gesippen mitbringcn — bis sich zu-
sammengefunden hat, was sich zu gemeinsamem frucht-
barcm Leben und Wesen verträgt, bis das kleine Rcich,
das für uns doch so unendlich große, gegründet ist:
worauf sich das unsichtbare Weltentor schließt — „und
durfte ferncr nichts geschehen, als was geschehen darf an
jedem Ort, an jedeni Tag, zu allen Aeiten".

Die Tonleiter ist nicht, wie dcr Dreiklang, gesunden,
sondern erfunden, abgeleitet aus dem Leben der Har-
monie. Die Sekund als Tonschnitt ist uns nicht ge-
geben (sie ist auch etwas anderes als die None!); dcn
zweiten Ton der Tonleiter finden wir vielmehr erst
als die O.uint des einen der Tonika nächst verwandtcn
Akkords, der „Oberdominant"; die siebente Stufc alü
deren Terz, die sechste als Terz dcs andern nächstver-
ivandten, des Unterdominant-Akkords.

Aber das alles ist ja künstlich nahegerückt, und zwar
konnte das nur dank der wirklichen Eigenschaft der Oktav
geschehen. Die dritte Stufe der Leiter, die Tcrz dcr
Tonika, entsteht aus einem Grundton, der um eine Terz
und zwei Oktaven tiefer liegt. Eine Terz als Konsonanz
gibt es demnach nicht mehr, sobald die Oktav einen
neuen Ton bedeutet. Das: „eins, zwei, drei" der Ton-
lcitcr haben wir nur dadurch, daß wir jedes „Acht" als
„Eins" dcuten können. Nimmt man uns das, so nimmt
man uns die Tonleiter, und damit die Grundlage des
melodischen Geschehens.

So viel liegt in dem Preisgeben des einen Teils des
Entweder-Oder; von dem andern Teil ist nicht erst
zu reden, da offensichtlich alles aus wäre, wenn die
Oktav als mit dem Grundton völlig identisch zu inter-
pretieren unsere geistige Struktur uns zwänge.

Die Wiege der kaum geborenen Musik ist von zwei
bösen Feen umstellt, und das göttliche Kind entrinnt, wie
im Märchen, auf dem unwahrscheinlichsten Weg den
Gefahren: der Widerspruch, ein ganz unerlaubter
Prozeß, ist ihr guter Geist, der listige Erlöser Hermes, der
edle Betrüger.

Machen wir uns klar, daß das, was wir in dcr Oktav
empfinden, nicht ausgedrückt, sondern nur durch Begriffe
umschrieben, eingekreist werden kann, die unter sich in
Feindschaft befindlich, dennoch mit unserem „Sowohl
als auch" sich die Hände reichen.

Das vergleichsweise -treffendstc Bild für die Oktav
ist noch das des „verjüngten Grundtons". Aber es ist
eben ein Bild aus dem Leben, im Grund ebenso un-
denkbar und logisch irreal wie das, daß sich Eltern in
ihren Kindern verjüngen sollen, wie man sagt. Vielleicht
mit Recht sagt — aber wer kann ein „Sich selbst"
„in andcren" sich ernstlich vorstellen? DaS gehört in
die Mystik.

Der Akustik pflegte man eine Zeitlang das Recht des
Vortritts einzuräumen, wenn der Iug in den Dom der
Wissenschaft von der Harmonie unternommen wurde.
Sie jedoch hätte sich höflich, aber kühl bedanken sollen,
wenn man sie einlud, an deni musikalischen Kultus
irgendwic teilzunehmen, wo sie wedcr als Priesterin
möglich noch als Ministrantin brauchbar ist, und auch
als Auschauerin dcs Verständnisses entbehrt; sie hätte
sich dessen vollends erwehren sollen, daß man ihr eine
lächerliche Rolle zu spielen zumutete, wenn man sie
einmal zu predigen, zu moralisiercn veranlaßte, namlich
über dic Schlechtigkeit der Welt, will sagen über die
durchgehende, jedes Kleinste des ganzen Kultus durch-
setzendc Unreinlichkeit und Unwahrhaftigkeit (wir nennen
das die temperierte Stimmung) — worauf sie ver-
stummt, sich wieder setzt, eine Weile noch hier und dort
eine Miene von erwachtem schlechtem Gewissen zeugen
und dann in kurzem das Ganze seinen unbeirrten Gang
weitcrgehen, die Welt der Konipromisse grünen, blühen
und Früchte bringen sieht, für deren Schönheit sie
freilich keinen Sinn hat.

Dcnn sie, die Akustik, ist gänzlich und grundsätzlich
unniusikalisch! Sie hat Formeln für Akkorde parat, aber
nicht für Äkkordfolgen, nicht für die Tonart, deren
Beivußtsein uns den Sinn der Akkordfolgen erschließt.

Und schon über die erste Erscheinung im Leben der
Töne gibt sie eine musikalisch völlig nichtssagende Aus-
kunft, denn ihr Lehrsatz: die Oktav verhält sich zum
Grundton wic zwei zu eins, läßt, wie wir sahen, die
Frage offen, ja stellt sie nicht einnial, ob es nun Musik
überhaupt geben kann oder nicht.

Hören wir einen Akkord, so erleben wir mathematische
Verhältnisse (denn daß die Akustik an sich recht hat, ist
klar). Hören wir Musik, so erleben wir Kräfte, dic in
mechanischen Vorgängen wiederzufinden sind, wir er-
leben Physik, z. B. Dynamik und Statik. Nicht als
ob wir Iahlen oder Formeln fühlten, als ob wir im
Hörcn der Musik Akkorde, Krafte, Verhältnisse als
Qualitäten empfindend, einen Augang zur Mathematik
oder Physik hätten. Aber möglicherweise sind Mathe-
matik und Physik selbst ein Augang, ein Tor in ein
unbekanntes Land, ein vorbercitendcr Weg, und dann
könnte die Musik als ein andercr Weg in dieses selbe
Land betrachtet werden. Von Weg zu Weg führt kein
Pfad, doch reicht der Blick manchmal von den getrennten
Straßen herüber und hinüber. Umgekehrt gesehen: es
ist derselbe Geist, der sich die strengen Wissenschaften
und die Musik zu Organen schafft. August Halm.

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